Heiliges Feuer
nehmen es, um ihr Leben nachträglich in Ordnung zu bringen. Dafür kann man nicht die Droge verantwortlich machen. Wenn man meint, man müsse Mut sammeln, um sich umzubringen, dann sollte man es wohl auch tun. Die Menschen müssen sich heutzutage umbringen, das ist eine gesellschaftliche Notwendigkeit. Wenn Lacrimogen einem zu dieser Einsicht verhilft und über die damit einhergehende Angst und die Verwirrung hinweghilft, dann spricht das nur für die Droge.«
»Lacrimogen ist gefährlich.«
»Sicherheit kotzt mich an. Sicherheit in jeder Form. Sicherheit korrumpiert. Ich wäre lieber tot als in Sicherheit.«
»Aber würdest du wirklich damit aufhören? Wenn ich es mit dir zusammen einnähme und dich anschließend bitten würde, damit aufzuhören?«
Natalie nickte zuversichtlich. »Das waren meine Worte. Wenn du dich nicht traust, ist das in Ordnung, das verstehe ich. Aber du hast kein Recht, mir deswegen Vorhaltungen zu machen. Weil du keine Ahnung hast, wovon du überhaupt redest.«
Maya blickte sich im Keller um. Sie wusste, dass sie im Moment in Gefahr war. Die Bedrohung ließ die Umgebung noch realer erscheinen. Den abbröckelnden Putz, die Risse in der Decke, das große, altmodische Tinkturengerät. Die herumliegenden Bücher, die Fläschchen mit Tinkturen, das kaputte Fahrrad, die Unterwäsche, den tropfenden Wasserhahn, das sonore Schnarchen des einen bewusstlosen Junkies. Die Haarnetze, die heruntergelassenen Rollläden, das Rumpeln einer vorbeifahrenden Straßenbahn. Hier war Brett zu Hause. Sie war Brett hierher gefolgt. Sie war Brett den ganzen weiten Weg gefolgt.
»Also gut. Ich tu’s.«
»Hey!«, rief Brett. »Antonio!«
Antonio unterbrach seine feierliche Rezitation und blickte höflich auf.
»Ich habe bald kein Lacrimogen mehr. Nur noch zwei Dosen. Kannst du mir sagen, wo ich Nachschub herkriege?«
»Klar«, meinte Antonio. »Ich kann dir was machen. Soll ich? Für deine hübsche Freundin? Kein Problem.« Er legte das Buch weg und wandte sich in schnellem Italienisch an die beiden Frauen. Alle wirkten erfreut, etwas tun zu können. Die Herstellung eines Stimulans war natürlich das Naheliegendste.
»Bitte seid nicht so laut«, meinte eine der Frauen, während sie sich die Ärmel hochkrempelte. Sie war sehr mager. »Sonst wacht Kurt noch auf. Kurt mag es nicht, wenn man herumschreit.«
Brett zog das Ende einer Rolle Klebepflaster aus einer Pergamintasche hervor. Sie pellte vier winzige Pflaster davon ab. Zwei davon drückte sie sich am Handgelenk auf die Schlagader, die anderen beiden gab sie Maya.
Nichts geschah.
»Du solltest nichts Sensationelles erwarten«, sagte Brett. »Das ist eine Stimmungsbeeinflussende Substanz. Das ist eine Stimmung.«
»Also, bei mir wirkt es nicht«, meinte Maya erleichtert. »Ich fühle mich bloß ein wenig schläfrig. Ein Bad wäre jetzt schön.«
»Hier gibt es kein Bad. Hier gibt’s bloß ein Klo. Hinter der Tür. Es macht dir doch nichts aus, dafür zu bezahlen, Maya? Fünf Mark? Für die Grundstoffe?«
Es war illegal, Drogen zu verkaufen. Man durfte sie tauschen, sie verschenken, sie selbst herstellen. Der Verkauf stellte ein Vergehen dar. »Wenn es ihnen hilft.«
Brett lächelte erleichtert. »Ich weiß wirklich nicht, weshalb Novak wollte, dass du so seltsam düster aussiehst. Du bist sehr freundlich, richtig nett.«
»Nun, ich habe Wünsche, die mit dem Status quo unvereinbar sind.« Das hatte sie schon oft gesagt, doch erst jetzt wurde ihr bewusst, was die Phrase wirklich bedeutete. Weshalb lebendige Menschen diese Worte zu ihrem Wahlspruch gemacht hatten, weshalb sie eine solch offensichtliche Dummheit allen Ernstes über die Lippen brachten. Der Status quo war die unerlässliche Vorbedingung des geleugneten Begehrens. Begehren war irrational, obszön und regelwidrig. Das Begehren zu akzeptieren, sich dem Begehren zu überlassen - das Begehren zu erkunden, es zu suchen - das war das genaue Gegenteil von Weisheit und Diskretion.
Und es war der Kern der Junkie-Romantik. Ein Vergnügen, so nackt wie die Geometrie - die euklidischen Freuden des Zentralnervensystems, eine reine Form der Fleischlichkeit für das graue Fleisch des Gehirns. Eine ultimative Form des Begehrens - keine Liebe, keine Wollust, keine Machtgier, stattdessen bloß gereinigte molekulare Gifte, die mit dem grauen Fleisch auf zellulärer Basis wundervolle Dinge anstellten. Die Erkenntnis schlug über ihr zusammen wie eine Woge. Sie hatte die Wahrheit des Junkie-Lebens bisher
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