Heiliges Feuer
arbeitet. Flüssige Flüssigkeit als Software, gehärtete Flüssigkeit als Hardware. Das ist ein zutiefst poetisches Konzept. Wegen sowas kriegen die Gerontokraten Anfälle.« Paul lachte herzhaft.
»Na gut, ich hab’s kapiert. Das ist wirklich raffiniert, nicht wahr? Und jetzt geh bitte rein.«
Jetzt erst sah er sie bewusst an. Sie hatte den Eindruck, er blicke durch ihren Kopf hindurch.
»Bist du sauer auf mich, Maya?«
»Nein.«
»Habe ich dich verletzt oder beleidigt? Bitte sei aufrichtig.«
»Nein, ich bin ehrlich nicht verletzt.«
»Dann weis mich bitte nicht ab, wenn ich dich bitte, diese Erfahrung mit uns zu teilen. Wir gehen zusammen am flachen Ende rein. Ganz langsam. Ich bleibe in deiner Nähe. Einverstanden?«
Sie seufzte. »Na gut.«
Er führte sie an der Hand wie ein Mann, der eine Herzogin zu einer Quadrille geleitete. Die Flüssigkeit wimmelte von Millionen prismatischer Flocken. Vielleicht kleine, schwimmende Sensoren. Sensoren, die so winzig waren, dass man sie einatmen konnte. Die Flüssigkeit hatte Körpertemperatur. Sie wateten hinein. Maya hatte das Gefühl, ihre Beine lösten sich auf.
Das Einatmen war leichter, als sie gedacht hatte. Eine Mundvoll Flüssigkeit löste sich auf ihrer Zunge auf wie Sorbet, und als sie in ihre Lunge eindrang, reagierte diese mit verwundertem Entzücken, wie wunde Füße auf eine unverhoffte Massage. Selbst den Augäpfeln schmeichelte sie. Die Flüssigkeit schlug über ihren Köpfen zusammen. Man konnte nur bis zu den Fingerspitzen sehen. Paul hielt sie bei der Hand. Körperteile tauchten aus der funkelnden Düsternis hervor: Pauls Hände, die Ellbogen, die nackte Hüfte.
Sie drangen behutsam ins Tiefere vor, bis sie endlich schwammen. Bis hinunter zu der weißen, viskosen Oberfläche der Creme de menthe. Sie ähnelte smartem Ton. Auf Mayas Berührung hin reagierte sie mit unmissverständlicher Begeisterung. Paul nahm zwei Händevoll heraus, und die Flüssigkeit brodelte in seinen Händen, auf unbeschreibliche Art und Weise aktiv, wie ein Gedicht, im Begriff, sich in ein Puzzle zu verwandeln. Die Substanz kochte über vor Maschinenintelligenz. Irgendwie war sie lebendiger als Fleisch; sie wuchs unter ihren tastenden Fingern wie eine Bach-Sonate. Virtuelle Materie. Ein Gestalt gewordener Traum.
Jemand schwamm wie ein Frosch an ihr vorbei und stürzte sich kopfüber in die Masse, wie ein Skiläufer, der in eine Schneewehe katapultiert wird. Allmählich hatte sie den Dreh raus. Dieses Erlebnis ging über bloßen Eros, bloße Sinnlichkeit hinaus. Hautlos. Hautloses Erinnern. Blutige Nostalgie, ein somatisches Deja vu, neurales mono no aware. Erinnerungen, die sie bislang nicht zugelassen hatte. Von Empfindungen herrührend, die sie bislang unterdrückt hatte.
Die Erinnerung stürzte auf sie ein wie ein mit Nadeln gespickter Hammer. Mit Schmerz war es nicht zu vergleichen. Diese Empfindungen waren weitaus stärker als die Persönlichkeit. Diese Erfahrungen überstiegen das Fassungsvermögen des Bewusstseins. Gewaltige Kräfte durchsiebten das Fleisch, Kräfte, die der Verstand nicht fassen konnte. Ein Softwarecrash für die Seele.
Als sie wieder zu sich kam, lag sie flach auf dem Rücken. Paul drückte mit der flachen Hand rhythmisch auf ihren Brustkasten, um sie wiederzubeleben. Flüssigkeit strömte ihr aus Nase und Mund, und sie hustete bestimmt einen Eimer voll davon aus.
»Ich bin explodiert«, keuchte sie.
»Maya, sag nichts.«
»Das hat mich umgehauen…«
Er presste sein Ohr zwischen ihre Brüste und hörte ihren Herzschlag ab.
»Wo bleibt der Krankenwagen?«, fragte Benedetta. »Mein Gott, jetzt warten wir schon eine geschlagene Stunde.« Sie wickelte sich zitternd in ein Badetuch.
Paul sagte: »Das war leichtsinnig von mir. Ich habe mal was über die neotelomerische Behandlung gelesen. Man ist in einer Art Virtualität eingeschlossen ... Ich hätte mir denken können, dass sowas passiert.« Er traktierte immer noch Mayas Brustkorb.
Maya drehte den Kopf und versuchte, etwas zu erkennen. Paul hatte sie vom Pool aus über die kalten Fliesen gezerrt und dabei eine glitzernde Fährte zurückgelassen, ähnlich der getrockneten Schleimspur einer Schnecke. Ein Stück weiter drängten sich die anderen, unterhielten sich besorgt, blickten zu ihr her. Ihre Füße ruhten auf Blöcken. Sie begann heftig zu zittern.
»Wenn du nicht aufhörst, kriegt sie wieder Krämpfe«, sagte Benedetta.
»Krämpfe sind besser als Atemstillstand«, erwiderte Paul
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