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Heiliges Feuer

Heiliges Feuer

Titel: Heiliges Feuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
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müssen, dass es unhöflich wäre, euch gegenüber gleichgültig zu sein. In Wirklichkeit scheren sie sich nicht um eure Träume. Sie befassen sich mit dem Aktuellen. Mit Verantwortlichkeiten. Sie wissen, dass sie irgendwann sterben werden. Sie wissen, dass ihr auf ihren Gräbern tanzen werdet. Sie würden euch mit Freuden alles mögliche verzeihen, solange ihr ihnen den Gefallen tut, vor ihnen zu sterben. Aber, Schätzchen, ich bin kein Rebell der Zukunft, ich bin eine Häretikerin im Hier und Jetzt. Ich tanze ihnen auf der Nase herum.«
    »Maya, hör auf, englische Politphrasen zu dreschen, und tu, was Benedetta sagt«, meinte Bouboule. »Benedetta ist sehr klug.
    Ach, seht mal! Lodewijk hat sie geküsst!« Vor Erregung wechselte sie ins Französische.
    Maya vermisste ihre Übersetzerperücke sehr. Sie hatte sie zurückgelassen, als sie in Prag aus der Wohnung der Schauspielerin geflüchtet war. Sie hatte bei der Flucht ihren gesamten Besitz verloren; viel war es nicht gewesen. Vor allem schmerzte sie der Verlust der Fotos. Sie waren nicht besonders gut, doch es waren die besten Fotos, die sie je gemacht hatte. Sie hatte sie gewissenhaft im Palast gespeichert. Jetzt gehörte der Palast der Witwe.
    Niko und Bouboule gerieten in helle Aufregung darüber, dass Lodewijk sich auf einmal an Yvonne heranmachte. Sie plapperten und kicherten. Selbst Benedetta zeigte reges wissenschaftliches Interesse. Wäre Maya dem französischen Wortschwall aufmerksam gefolgt, hätte sie vielleicht jedes zehnte Wort verstanden. Ohne den steten Übersetzerstrom im Ohr wirkten diese jungen Leute unglaublich fremd, eine Generation von einem anderen Kontinent und mit einer anderen Kultur. Eine Generation, von der sie achtzig Jahre trennten.
    Auf ihre Weise kannte sie sie: Paul, Benedetta, Marcel, Niko, Bouboule, Eugene, Lars, Julie, Eva, Max, Renee, Fernande, Pablo, Lunia, Jeanne, Victor, Berthe, Endehuanna, die zumeist Hedda genannt wurde, Berthes eigenartigen Freund Lodewijk - wie sah er noch gleich aus? -, den neuen Typ aus Kopenhagen, Yvonne, die bis gerade eben mehr oder minder offiziell mit Max liiert gewesen war, mit diesem russischen Bildhauer mit den zwölf Fingern und der intensiven Ausstrahlung, den netten indonesischen Halbwüchsigen, der sich in letzter Zeit viel herumtrieb und angeblich eine Affäre mit Bouboules Bruder hatte ... Ihre Freunde waren wundervoll. Sie hatte großes Glück gehabt, sie in der kurzen Larvenphase kennengelernt zu haben, da sie mehr oder minder menschlich waren. Sie liebten Maya, und sie liebten einander, jedoch nach Art von Freunden oder Liebenden, während sie Maya liebten wie eine sehr kostbare und unwiderstehliche Serie alter Porträtfotos.
    Bouboule erhob sich voller Anmut von der Liege und ging zu Yvonne und Lodewijk hinüber, um sie zu necken. Niko folgte ihr, um sicherzustellen, dass Bouboule nicht des Guten zu viel tat, und um das Schauspiel ebenfalls zu genießen. Dies entnahm Maya ihrer Körpersprache. In unbekleidetem Zustand war Körpersprache äußerst aufschlussreich.
    Benedetta streckte ihre schlanken Beine auf dem Webbezug des Liegesessels aus und wandte sich an Maya. »Er hat Yvonne haufenweise Gedichte geschickt, weißt du«, erklärte sie. »Ich musste weinen, als ich sie gelesen habe. Schon erstaunlich, dass dänische Lyrik mich zum Weinen bringt.«
    »Wirklich, Benedetta, du brauchst mir nichts zu erklären. Ich bin selbst schuld daran, dass ich meinen hübschen toupierten Übersetzer verloren habe.«
    »Ich erklär’s dir gern, Maya. Ich möchte, dass du auf dem Laufenden bist.«
    »Ich verstehe auch so schon mehr als genug.« Sie überlegte kurz. »Benedetta, eins begreife ich wirklich nicht. Weshalb hat Paul keine Geliebte? Ich sehe Paul nie in Begleitung.«
    »Vielleicht ist er ja zu zurückhaltend.«
    »Was meinst du mit ›vielleicht‹? Willst du damit sagen, du kennst die Antwort nicht?« Sie lächelte. »Benedetta, bist du’s wirklich?«
    »Nicht, dass wir es nicht versucht hätten«, meinte Benedetta. »Natürlich haben wir alle probiert, an ihn heranzukommen. Wer möchte nicht Mrs. Ideologe sein? Wer möchte nicht die Favoritin des Genies sein? Hab ich nicht Recht? Sich in seinem heroischen Schatten verlieren. Ich möchte Pauls schmutzige Socken aufsammeln. Ich möchte ihm die kleinen Knöpfe annähen. Das ist das ideale Leben für mich. Nicht wahr? Ich möchte den geliebten Paul anhimmeln, während er vierzehn Stunden am Stück mit meinen Kollegen theoretisiert. Ich

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