Heiliges Feuer
Haus. Es handelte sich um ein vierstöckiges Wohnhaus aus dem zwanzigsten Jahrhundert, mit einer vulgären, hässlichen Fassade aus gelben Klinkern. Irgendjemand hatte systematisch alle elektrischen Leitungen herausgerissen, sodass es nicht mehr zu vermieten war. Ulrich hob eine Öllampe mit Drahtgriff hoch, die im Eingang stand.
»[Man kann die Gesundheitsinspektoren nicht aus einem besetzten Haus heraushalten]«, meinte Ulrich warnend. Den kaputten Aufzug ließen sie links liegen und stiegen die dunkle, stinkende Treppe hoch. »[Sozialdienstleute sind sture Böcke, und sie sind sehr tapfer. Die Munchener Polizei ist allerdings sehr effizient und daher faul. Sie lassen die Arbeit lieber von Maschinen erledigen, und ein besetztes Haus ohne Strom zu verwanzen oder anzuzapfen, ist nicht leicht.]«
»Wie viele Leute leben in dieser Bruchbude?«
»[Sie kommen und gehen. Etwa fünfzig Personen. Wir sind Anarchisten.]«
»Alles junge Leute?«
»Mit vierzig ist das Leben zu Ende«, sagte Ulrich auf englisch. »[Wir gelten als jung ... Alte mögen keine besetzten Häuser. Sie legen keinen Wert auf Freiheit und Selbständigkeit. Sie brauchen ihre Archive, ihre Reinigungsgeräte, ihre Lehnsessel, richtiges Geld, überall Sensoren und Alarmanlagen, sämtlichen Komfort. Richtig alte Leute besetzen keine Häuser. Sie haben keinen Grund dazu.]« Ulrich setzte ein halbherziges anzügliches Grinsen auf. »[Einer der vielen Gründe, weshalb alte Leute nichts mehr empfinden…]«
»Hast du Eltern, Ulrich«
»[Jeder hat Eltern. Manchmal verlegen wir sie.]« Sie waren im dritten Stock angelangt, und er hob die fauchende Lampe und sah ihr ins Gesicht. Er schaute sehr ernst drein. »[Frag mich nicht nach meinen Eltern, und ich werd dich nicht nach deinen fragen.]«
»Meine sind tot.«
»[Wie schön für dich]«, sagte Ulrich und stieg ungeduldig zum nächsten Absatz hoch. »[Wenn ich dir das abnähme, würde ich dich bedauern.]«
Atemlos gelangten sie am obersten Absatz an. Sie schritten durch einen kalten Korridor mit kahlen, graffitibeschmierten Wänden. Die Graffitis waren sehr subversiv, säuberlich mit Schablonen gemalt und hochpolitisch. Das meiste war in englisch. KAUF DIR EINEN NEUEN WAGEN, DAS MACHT SEXY, verkündete eine Inschrift. STEIGERT DEN VERBRAUCH AN BODENSCHÄTZEN, UM KURZFRISTIGE BEDÜRFNISSE ZU BEFRIEDIGEN, lautete ein weiterer ominöser Spruch.
Ulrich öffnete ein altes Vorhängeschloss mit einem Metallschlüssel. Die Tür öffnete sich quietschend. Der dahinter befindliche Raum war dunkel und kalt und stank. Die Innenwände waren zum größten Teil eingerissen und durch Stoffdecken ersetzt worden, die an gespannten Seilen aufgehängt waren. Es roch nach Moder und Mäusen.
Ulrich schlug die Tür zu und legte den Riegel vor. »[Ist das nicht luxuriös?]« Seine Stimme hallte in dem stinkenden Gemäuer wider. »[Hier stört einen niemand! Ich rede nicht von privater Abgeschiedenheit. Ich will damit sagen, dass diese Räumlichkeiten jeglicher Überwachung unzugänglich sind.]«
»Kein Wunder, dass es hier so stinkt.«
»[Dagegen hab ich was.]« Ulrich entzündete ein halbes Dutzend Duftkerzen. Das Zimmer füllte sich mit dem aufdringlichen Geruch tropischer Früchte: Ananas, Mango. Maya bezweifelte, dass Ulrich jemals Ananas oder Mango gegessen hatte. Wahrscheinlich bewirkte der Mangel an unmittelbarer Erfahrung, dass ihm die Düfte noch exotischer erschienen.
Sie musterte das stinkende Zimmer im romantischen Kerzenschein. »Dafür, dass es hier keinen Strom gibt, hast du hier aber eine Menge elektronischer Geräte.«
»[Enteigneter Privatbesitz.]« Ulrich nickte. »[Zufällig teile ich diese Räumlichkeiten mit drei anderen Herren mit ganz ähnlich gelagertem Interesse. Wir haben festgestellt, dass ein Leben außerhalb des Gesetzes es notwendig macht, seine Fähigkeiten zu vereinen.]«
Er hängte die Laterne an eine von der Decke baumelnde Schnur und stupste sie sachte an. Schatten schwankten über die Wände. »[Wir wohnen hier nicht. Enteigneten Privatbesitz würden wir unter keinen Umständen in unserer Wohnung verwahren. Aufgrund der zeitbasierten Währungen, des Informantennetzwerks, der panoptischen Überwachungsmaßnahmen und anderer Methoden gerontokratischer Unterdrückung ist es schwer, die Sachen kommerziell zu verwerten. Daher benutzen ich und meine Genossen diese Räumlichkeiten als gemeinsames Lager. Hin und wieder schlafen wir hier auch mit einer Frau.]«
»Was für ein Saustall.
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