Heiliges Feuer
verboten.«
Maya ging zu der alten Dame hinüber, die mit Messer und Gabel Nudeln in sich hineinschaufelte. Sie trank ein Getränk, das mit ›Fruchtlimo‹ beschriftet war, und war sehr gut gekleidet. »Entschuldigen Sie, Ma’am, sprechen Sie englisch?«
»Ja, allerdings, junge Frau.«
»Haben Sie einen Stadtplan von Munchen? In Englisch? Ich suche nach einem bestimmten Ort.«
»Aber gern. Freut mich, wenn ich Ihnen behilflich sein kann.« Die Frau klappte das Notebook auf und öffnete allerlei Fenster. »Wie heißt der Ort, den Sie suchen?«
»Chinaturm.«
»Ah, ja. Den kenne ich. Da haben wir ihn schon ...« Sie zeigte darauf. »Er liegt im Englischen Garten. Der Park wurde um 1790 von Graf Rumford entworfen. Graf Rumford hieß mit richtigem Namen Benjamin Thompson und war ein amerikanischer Emigrant.« Sie schaute lächelnd hoch. »Ist es nicht seltsam, dass eine so alte Stadt von einem unserer Landsleute umgestaltet wurde!«
»Fast so seltsam wie der Umstand, dass Indianapolis von einem Indonesier umgestaltet wurde.«
»Nun«, meinte stirnrunzelnd die Frau, »damals waren Sie noch nicht geboren. Aber ich bin zufällig aus Indiana und habe dort gelebt, als die Indonesier die Stadt kauften, und glauben Sie mir, das fanden wir damals gar nicht komisch.«
»Vielen Dank für Ihre Hilfe, Ma’am.«
»Soll ich Ihnen den Stadtplan ausdrucken? Ich habe einen Scroller in der Handtasche.«
»Schon gut. Ich werde von jemandem erwartet, ich muss jetzt gehen.«
»Aber es ist ein weiter Weg bis zum Turm, Sie könnten sich verlaufen. Ich könnte ...« Sie stockte. »Meine Handtasche ist weg.«
»Sie haben Ihre Handtasche verloren?«
»Nein, nicht verloren. Sie war hier, gleich unter der Bank.« Sie schaute umher, dann sah sie zu Maya auf. Sie senkte die Stimme. »Ich fürchte, jemand hat meine Handtasche mitgenommen. Sie gestohlen. O je. Das ist wirklich schlimm.«
»Das tut mir Leid«, meinte Maya hilflos.
»Ich fürchte, ich muss zur Polizei gehen.« Die alte Dame seufzte. »Das ist wirklich unangenehm. Sie werden so verlegen sein, die armen Leute ... Es ist schrecklich, wenn einem Gast so etwas passiert.«
»Es ist nett von Ihnen, dass Sie sich über ihre Empfindungen Gedanken machen.«
»Das Schlimme ist ja nicht der Verlust der paar Wertsachen, sondern die Verletzung des Gastrechts.«
»Ich weiß«, sagte Maya, »und es tut mir aufrichtig Leid. Ich würde Ihnen gern meine Handtasche geben.« Sie legte ihre Tasche auf den Tisch. »Es ist nicht viel drin, aber Sie können sie haben.«
Die alte Dame sah ihr zum erstenmal in die Augen. Dann geschah etwas Seltsames. Die Frau riss die Augen auf und erbleichte. »Meinten Sie nicht, Sie hätten eine Verabredung?«, sagte sie schließlich mit schwankender Stimme. »Ich möchte Sie nicht aufhalten.«
»Schon gut«, erwiderte Maya. »Leben Sie wohl, und auf Wiedersehen.« Sie trat auf die Straße. Ulrich hatte wieder das Fell angezogen. »Du hast viel zu lange gebraucht«, neckte er sie. »Komm mit.« Er wandte sich zu einer U-Bahnstation.
Auf der Rolltreppe öffnete Ulrich seinen braunen Rucksack und wühlte darin. »Ah! Ja, ich hab’s doch gewusst.« Er holte einen federleichten Ohrclip hervor. »Hier, leg das an.«
Maya klemmte sich den Clip ans rechte Ohr. Ulrich begann deutsch zu sprechen. Ein Schwall deutscher Worte floss von seinen Lippen, während der Clip simultan übersetzte.
»[So ist es besser]«, wiederholte der Clip in melodischem Ostküstenamerikanisch. »[Damit wäre die intellektuelle Parität wieder hergestellt.]«
»Was?«, meinte Maya.
»Der Übersetzer funktioniert doch, oder?« Ulrich sprach englisch und tippte sich nervös ans Ohr.
»Oh.« Maya fasste sich an den Clip. »Ja, er funktioniert.«
Ulrich wechselte sogleich wieder ins Deutsche. »[Dann ist es ja gut! Jetzt kann ich dir beweisen, dass ich schlauer und einfallsreicher bin, als man aufgrund meiner beschränkten Englischkenntnisse meinen mag.]«
»Du hast der Frau eben die Handtasche gestohlen.«
»[Stimmt. Das musste sein. Auf die Dauer wäre es zu mühselig gewesen, mich mit dir zur unterhalten. Ich war mir sicher, dass eine Frau ihres Alters und ihrer sozialen Stellung einen Übersetzer dabei hätte. Und wer weiß, vielleicht sind in der Handtasche ja noch andere interessante Sachen.]«
»Und wenn du erwischt wirst? Wenn wir erwischt werden?«
»[Man wird uns nicht erwischen. Als ich die Handtasche gestohlen habe, hatte ich das bunte Trikot an, das beim Betreten und
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