Heillose Zustände: Warum die Medizin die Menschen krank und das Land arm macht (German Edition)
sie zumeist nicht behandelt werden. Kritischer wird es, wenn die Kinder benommen, jünger als zwei Jahre alt sind, äußere Verletzungen aufweisen, der Sturz sich aus mehr als einem Meter Höhe ereignete oder Hinweise auf größere Verletzungen oder kognitive Einschränkungen vorliegen. Werden die Kinder frühzeitig Röntgenstrahlen ausgesetzt, steigt ihr Krebsrisiko übermäßig – von 1400 Kindern, bei denen ein Schädel-CT angefertigt wurde, bekommt eines später aus diesem Grund einen Tumor.
Bei chronischer Mittelohrentzündung sollten Kinder nicht gleich ins Krankenhaus. In den meisten Fällen heilt die Erkrankung innerhalb der ersten drei Monate von allein – ohne Nebenwirkungen und Komplikationen. Nur wenn Kinder neurologische Auffälligkeiten zeigen, zusätzlich Sprach- oder Lernprobleme auftreten oder Verformungen des Trommelfells befürchtet werden, sollten klinische Experten hinzugezogen werden.
Die Top-5-Liste der überflüssigen Maßnahmen und die Empfehlungen der amerikanischen Experten beruhen auf exzellenten internationalen Studien. Sie stimmen in ihrer Einschätzung mit unabhängigen europäischen Medizinern überein, die seit Jahren vor Überdiagnose und Übertherapie in Kliniken wie Praxen warnen. Für Jürgen Windeler, Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), ist es selbstverständlich, dass »Ärzte auf Untersuchungen und Behandlungen verzichten, die nicht sinnvoll sind – das ist für Patienten ein Gewinn an Lebensqualität«. Diagnostik und Therapie nach dem Gießkannenprinzip könnten für Patienten sogar gefährlich sein. »Jede medizinische Intervention muss gut begründet sein, sonst kann der Schaden den Nutzen überwiegen«, sagt Gerd Antes, der das Cochrane-Zentrum zur Bewertung medizinischer Studien in Freiburg leitet. Und nur so könnten ausreichend Mittel für diejenigen medizinischen Maßnahmen zur Verfügung stehen, die tatsächlich hilfreich sind. »An Ärzte stellt es erhöhte Anforderungen, sich mit den wissenschaftlichen Grundlagen ihres Tuns auseinanderzusetzen – und Patienten müssen aus ihrer passiven Anspruchshaltung herauskommen. Beide Seiten können aber nur davon profitieren.«
Unnötige OP, unnützes Röntgen – hoffentlich nicht privatversichert
Kommt ein Kassenpatient zum Arzt. Er hat Stress im Büro, Ärger mit der Frau und Bauchschmerzen. Der Arzt drückt auf dem Bauch herum, sagt, »das wird schon wieder« und »gönnen Sie sich mal ein paar Tage Ruhe«. Auf Wiedersehen im nächsten Quartal.
Kommt ein Privatpatient zum Arzt. Er hat Stress im Büro, Ärger mit der Frau und Bauchschmerzen. Der Arzt nimmt Blut ab, macht Ultraschall von Bauch und Herz (»Sie sind jetzt in dem Alter«), den Helicobacter-Atemtest, den Laktosetoleranztest und schreibt den Patienten sofort zur Darm- und zur Magenspiegelung ein. »Vorerst kommen wir ohne Kernspin aus«, sagt der Arzt. »Aber wir müssen dranbleiben, die Ursache finden wir schon.« Bis morgen.
Der Kassenpatient hat noch etwas Magengrummeln, dann schläft er aus, und es geht ihm wieder gut. Der Privatpatient fühlt sich erstklassig betreut und hält den Arzt für gut und gründlich. Sein Bauch drückt noch etwas, er macht sich Sorgen, ob nicht Schlimmeres dahintersteckt. Er schläft schlecht, muss sich bei der Arbeit abmelden, denn er hat Arzttermine für den Rest der Woche. Bei ihm wird nichts Gefährliches gefunden, nur Polypen (»die müssen wir regelmäßig kontrollieren«), leicht erhöhte Harnsäure- und Cholesterinspiegel (»sollten wir medikamentös richtig einstellen, da sehen wir uns öfter«) und eine Neigung zur Laktose-Intoleranz (»diätetisch können wir da was machen«).
Zwei Männer mit ähnlichen Beschwerden. Zwei Männer, die eigentlich kerngesund sind. Nur ist der eine privat versichert, der andere nicht.
Hat sich schon jemand bei den Privatversicherten bedankt? Nein? Dabei sind sie es, die den medizinischen Fortschritt ermöglichen. Sie lassen unbewiesene Therapien über sich ergehen, schlucken neue Medikamente, machen jeden Test mit und opfern sich für alle anderen auf. Sonst traut sich ja keiner. Die 8,6 Millionen Privatversicherten im Land – gerade zehn Prozent der Bevölkerung – zahlen sogar höhere Beiträge für die Opfer, die sie bringen. Bravo! Privatversicherte sind die Märtyrer der Medizin.
Die heutigen Ärzte haben die löbliche Tradition des Selbstversuchs ja schleifenlassen. Keiner in Sicht wie Max Pettenkofer. Der
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