Heillose Zustände: Warum die Medizin die Menschen krank und das Land arm macht (German Edition)
wie Depression und S wie Sozialphobie bis hin zu Z wie Zappelbeinen, die Kenner allerdings als Restless Legs bezeichnen.
Moment, das gibt es doch alles! Die Nachbarin hat Alzheimer, der Onkel schluckt Blutdrucktabletten, der Kollege ist depressiv. Längst sind diese Diagnosen in den Alltagswortschatz wie in Krankheitskataloge, Leitlinien und Abrechnungscodierungen eingegangen. Leugnen zwecklos. Etliche Medizinerkarrieren wurden mit der Erforschung von Wechseljahren und Schlafstörungen begründet. Was einst als normale Phase im Leben einer Frau galt, beziehungsweise als Variation der Nachtruhe, ist inzwischen ein verdächtiges Leiden. Es muss diagnostiziert, kontrolliert und therapiert werden.
Kinder sind besonders intensiver Überwachung ausgesetzt. Was würden junge Eltern auch machen, wenn es nicht in vielen Kliniken Schreiambulanzen gäbe, in denen sie sich beruhigen lassen können, dass dem plärrenden Nachwuchs nichts fehlt? Kinderärzte spezialisieren sich auf Ein- und Durchschlafstörungen, erforschen Teilleistungsschwächen und Schwerbegabungen, testen auf Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivität. Durch diesen Parcours der drohenden Diagnosen kommen nur Kinder, deren Eltern noch wissen, dass Umwege die Ortskenntnis erhöhen und dass Lärm, Streit und Durcheinanderplappern ein Erkennungszeichen der 18-Monatigen bis 18-Jährigen sind und dass Lebensläufe nach Norm nur in der Phantasie von Personalchefs vorkommen.
Die Mechanismen der Krankheitserfinder und -dramatisierer funktionieren ähnlich, und sie funktionieren erstaunlich gut. Der Gesundheitsmarkt profitiert von einer Dreifaltigkeit der Bedürfnisse: Einer therapiesüchtigen Gesellschaft bietet eine boomende Befindlichkeitsindustrie Leiden und Leidensablass für jede Lebenslage. Pharmafirmen im Verein mit geschäftstüchtigen Ärzten helfen, Lebensläufe von der Wiege bis zur Bahre zu pathologisieren und Menschen krankzureden. Unterschiede in der Entwicklung und Schwankungen der Leistung werden plötzlich als pathologisch definiert. Dieser Vorgang wird als Medikalisierung bezeichnet: Was früher als normal galt, wird von der Medizin für abweichend und behandlungsbedürftig erklärt. Der englische Begriff »Disease Mongering« trifft die Entwicklung besser; er bedeutet so viel wie »Handeln mit Krankheit«.
Das Perfide an den zahlreichen Krankheitsangeboten, die neu auf den Markt kommen: Es gibt viele der Leiden tatsächlich. Aber sie treten längst nicht so gravierend oder verbreitet auf wie von interessierten Kreisen behauptet – oder haben keinen Krankheitswert. Oft ist die Diagnose zwar nicht völliger Nonsens, aber eben zu großen Teilen ein Geschäftsmodell. Nur wenige Erkrankungen sind komplette Neuerfindungen. Die seltene frühe Glatzenbildung bei der Frau als therapiebedürftige Krankheit zu vermarkten, schlug fehl. Da half es auch nichts, dass die von der Pharmaindustrie beauftragte PR-Agentur bis zu 30 Prozent der Frauen als betroffen darstellte. Auch die – medizinisch völlig abstrusen – Wechseljahre des Mannes werden trotz intensiver Bemühungen der Urologen und Testosteronhersteller und einiger fehlgeleiteter Manager, die sich das Zeug spritzen lassen, nicht von der potentiellen Kundschaft akzeptiert.
Wirksamer ist es, neue Klienten für eine bestehende Krankheit zu gewinnen. Das einfachste Rezept: Grenzwerte senken. Natürlich gibt es Bluthochdruck, und es ist schädlich für das Herz, wenn er dauerhaft bei 180/100 mm Hg liegt. Das Gleiche gilt fürs Cholesterin und andere Blutfette, die in höchsten Konzentrationen Arterien zukleistern können. Inzwischen haben Europas Kardiologen den Normbereich für Blutdruck und Cholesterin allerdings so weit gedrückt, dass fast 80 Prozent aller Erwachsenen behandlungsbedürftig wären, würden die Empfehlungen der Herzärzte berücksichtigt. [60]
Vielversprechend ist auch der Versuch von Medizinern und Industrie, vor drohender Krankheit zu warnen, bevor es Anzeichen dafür gibt oder sie Beschwerden macht. Wehret den Anfängen! Inzwischen gibt es Prä-Diabetes, Prä-Hypertonie, Prä-Demenz und Prä-Osteoporose. Wer trotz rigoros erniedrigter Grenzwerte noch ein normales Blutbild, normalen Blutdruck und seine Knochen und Nerven beisammenhat, ist trotzdem ständig in Gefahr, so die perfide Botschaft.
Solange die Medizin weiterhin fast ausschließlich nach den Kriterien von Markt und Wachstum bemessen und bezahlt wird, steigen nicht nur die Ausgaben unaufhörlich weiter, sondern es
Weitere Kostenlose Bücher