Heillose Zustände: Warum die Medizin die Menschen krank und das Land arm macht (German Edition)
nachempfunden sind, liegt der Verdacht nahe, dass hier tatsächlich Zellen pathologisch verändert sind. Und die umgangssprachlich als »Zellulitis« beschriebene Metamorphose der weiblichen Weichteile klingt durch die medizinische Endung -itis nach einer Entzündung, die unbedingt behandelt werden sollte, bevor es zu spät ist. Mit nutzlosen Mitteln gegen die Hügel unter der Haut werden jährlich Millionenumsätze gemacht.
Der australische Medizinkritiker Ray Moynihan hat sich besonders intensiv mit der Branche der Krankheitshändler beschäftigt. In seinem Buch »Sex, Lies and Pharmaceuticals« zeichnet er nach, wie die Arzneimittelindustrie Schwankungen der weiblichen Lust pathologisiert. Pharmafirmen unterstützten nicht nur die Erforschung des angeblichen Leidens »Female Sexual Dysfunction«, sondern die Pillenhersteller halfen entscheidend dabei mit, das entsprechende Krankheitsbild zu erfinden. [65]
Je nach Stand der Arzneientwicklung änderte sich der Fokus. Wurden Mittel erforscht, die den Blutfluss steigerten, galt die »Insuffizienz« der Vaginaldurchblutung als Ursache der vermeintlichen weiblichen Unlust. War ein Testosterongel für Frauen der heiße Kandidat, wurde ihnen Hormon-»Mangel« unterstellt. Als ein Psychopharmakon erforscht wurde, das die Neurotransmitter im Gehirn beeinflusst, war die mangelhafte Libido der Frauen plötzlich Kopfsache, und es galt, ein Problem im Hirn der Frau zu lösen. Um den Bedarf anzukurbeln, gaben Arzneihersteller gelenkte Umfragen in Auftrag, wonach bis zu 60 Prozent der Frauen an sexueller Unlust litten, und bezahlten Forscher für einseitige Meinungen.
Bisher ist der Erfolg der Kampagne verhalten, aber der Markt ist offen für weitere Krankheitsangebote. Schließlich gibt es keine Gesunden, nur Menschen, die noch nicht genug untersucht worden sind. Diagnosen sind für alle da.
Ein ganzes Land krankgeschrieben
Schotten sind Virtuosen an der Fritteuse. Sie werfen Schokoriegel in heißes Fett und servieren das Zeug als »Deep fried Mars Bar«, 40 Prozent der schottischen Imbissbuden bieten laut einer Erhebung solche Leckereien an. Ähnlich populär ist »Deep fried Pizza« – die Tiefkühlpizza wird direkt in die Fritteuse gegeben, als Beilage werden Pommes gereicht. Vergleichsweise harmlos ist da Haggis, eine Spezialität aus gehäckselten Schafsinnereien. Wer seine Geschmacksknospen derart stimuliert, kann auch die quietsch-orangene Limonade Irn-Bru trinken, die einem chemischen Kombinat zu entstammen scheint.
Wenn es ihnen schmeckt. Doch so leicht kommen die Bravehearts nicht davon. Ärzte und Wissenschaftler aus Schottland schlagen Alarm und beklagen, dass 97,5 Prozent aller Schotten krank sind oder es aufgrund ihrer »gefährlichen Lebensweise« bald werden. [73] Viele Schotten rauchen, trinken zu viel Alkohol, bewegen sich kaum, sind zu dick – und was sie essen, ist nicht nur zu viel, sondern meist auch ungesund. Für 86 Prozent der Schotten treffen mindestens zwei dieser Risikofaktoren zu, für 20 Prozent sogar alle fünf, wie die Untersuchung ergab.
Obwohl die Schotten in einschlägigen Erhebungen zur Gesundheit nie gut abschneiden – dort erleiden Menschen öfter Infarkte und Schlaganfälle als die Bewohner Frankreichs, Italiens oder Spaniens –, ist es übertrieben, ein ganzes Land als krank zu bezeichnen. Alkohol, Übergewicht und Bewegungsmangel machen schließlich nur im Exzess krank. »Manche Pharmafirmen, Ärzte und andere Profiteure im Gesundheitswesen sehen ihre Aufgabe darin, neue Krankheiten auf den Markt zu bringen – oder Medikamente, die ihre Krankheit noch suchen«, sagt Michael Kochen. »Durch immer niedrigere Grenzwerte werden immer größere Kreise der Bevölkerung krankgeredet.«
Die strengen Maßstäbe, nach denen Übergewicht schon bei Body-Mass-Index 25 beginnt, wurden erst 1996 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) festgelegt. Als die Gesundheitsinstitute der USA die Definition 1998 übernahmen, wurden auf einen Schlag 35 Millionen beschwerdefreie Amerikaner zu übergewichtigen Risikoträgern. In jüngster Zeit wird leicht erhöhter Blutzucker immer öfter als Prä-Diabetes bezeichnet. Viele Ärzte sehen Risikofaktoren wie erhöhtes Cholesterin schon als Krankheit selbst an.
Die flächendeckende Krankmacherei hat Folgen: Es fehlen Geld und Zeit für diejenigen, die wirklich krank sind: »Kein noch so reiches Land kann es sich leisten, immer größere Teile der Bevölkerung zu behandeln«, kritisiert
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