Heillose Zustände: Warum die Medizin die Menschen krank und das Land arm macht (German Edition)
sind auch ständig neue Krankheiten und Diagnosen nötig. Das liegt in der Logik einer Medizinwirtschaft, die permanent auf eine Stimulation der Nachfrage angewiesen ist. Werden zuvorderst marktwirtschaftliche Kriterien an die Heilkunde angelegt, führt dies dazu, dass munter weiter Krankheiten erfunden und Therapieempfehlungen ausgeweitet werden. Das ist zwar gelegentlich amüsant – eine Persiflage findet sich bei Youtube unter dem Suchwort »motivational deficiency disorder« –, meistens aber gefährlich. Denn die neuen Krankheiten ziehen neue Diagnosemethoden und Behandlungen und deren Nebenwirkungen nach sich, und dadurch werden Menschen nicht gesünder, sondern kränker.
Aus Ängsten lässt sich besonders gut Kapital schlagen. Und Ängste haben die Menschen in wohlhabenden Ländern genug. Angst vor dem Alter und vor zunehmender Vergesslichkeit. Angst vor Haarausfall und Übergewicht. Angst vor nachlassender Potenz und mangelnder Lust. Angst, irgendwann nicht mehr mithalten zu können, in der Leistung nachzulassen, durch das Raster zu fallen.
Keine Angst! Wir haben was dagegen. Beispiel Alzheimer. Natürlich gibt es zahlreiche Demenzformen, die besonders im Alter auftreten und mit Störungen des Gedächtnisses und dem Verfall anderer kognitiver Leistungen einhergehen. Das Buch »Vergiss Alzheimer!« der Journalistin Cornelia Stolze zeigt schlüssig, dass Alzheimer keine Krankheit ist, sondern ein »gezielt geschaffenes Konstrukt, mit dem sich Ängste schüren, Forschungsmittel mobilisieren, Karrieren beschleunigen, Gesunde zu Kranken erklären und riesige Märkte für Medikamente schaffen lassen«. [61] Schließlich trifft die Angst vor dem Vergessen den Nerv alternder Gesellschaften.
Was, Alzheimer soll eine Erfindung sein? Wem das zu reißerisch vorkommt, der sei auf das Buch »Mythos Alzheimer« des renommierten Demenzforschers Peter Whitehouse verwiesen. [62] Er beschreibt im Kapitel »Die Geburt des Alzheimer-Imperiums«, wie sich während seiner Arztlaufbahn der Begriff für kognitive Beeinträchtigungen von »Senilität« über »senile Demenz« hin zu »senile Demenz vom Alzheimertyp« und »Alzheimerkrankheit und verwandte Störungen« bis zur derzeit gültigen »Alzheimerkrankheit« gewandelt habe. Hier geht es nicht nur um Terminologie. Von der »aggressiven Medikalisierung der Gehirnalterung« profitieren laut Whitehouse Forschungseinrichtungen, Wissenschaftler und die Industrie, obwohl die Akteure »wissen, dass es keine singuläre Krankheit namens Alzheimer gibt und dass wir es mit einem komplexen, wissenschaftlich unpräzisen sozialen Konstrukt zu tun haben, für das es wohl niemals eine Heilung geben wird«.
Die Depression ist zweifellos ein fürchterliches Leiden. Mittlerweile wird sie allerdings bei zu vielen Menschen diagnostiziert – die Zahl der psychisch Kranken habe nicht zugenommen, wohl aber die derjenigen, die als solche behandelt werden, monieren kritische Mediziner. In ihrem Buch »The Loss of Sadness« [63] beschreiben Allan Horwitz und Jerome Wakefield, wie Psychiatrie und Pharmaindustrie aus normaler Traurigkeit eine depressive Erkrankung gemacht haben. Verschreibungszahlen für Psychopharmaka spiegeln das wider: Mit Einführung der neuen Antidepressiva vom Typ SSRI in den 1980er und 1990er Jahren, deren Wirksamkeit zuletzt stark angezweifelt wurde, stieg auch die Zahl der angeblich Kranken. In den USA hat sich die Zahl derjenigen, die wegen einer Depression behandelt werden, allein in der Zeit von 1987 bis 1997 von 1,7 auf 6,3 Millionen fast vervierfacht. Inzwischen liegt sie weiter über zehn Millionen.
Trotz der massiv gestiegenen Zahl an Depressiven wird das Leiden bei etlichen Betroffenen nicht erkannt; es gibt ein Miteinander an Über- und Unterdiagnostik. Der Gesundheitswissenschaftler Norbert Schmacke [64] warnt schon länger davor, dass sich die Behandlung mit Antidepressiva »zu einem modernen Nahrungsergänzungsbestandteil entwickelt, weil es am Ende nicht mehr gelingen wird, das normale Maß an schlechten Stimmungen von dem behandlungsbedürftigen Kern von Depressionen mit Krankheitswert abzugrenzen«.
Selbst harmlose Begriffe wie Cellulite haben eine erstaunliche Karriere hingelegt. Die Neuschöpfung von Nicole Ronsard, Betreiberin eines New Yorker Schönheitssalons, brachte seit 1973 werbewirksam die ebenso grundlosen wie häufigen Ängste vieler Frauen auf den Punkt. Da die Veränderungen an Beinen, Hüften und Po dem Relief einer Waffel
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