Heillose Zustände: Warum die Medizin die Menschen krank und das Land arm macht (German Edition)
wichtigtaten, weil ihr Fachgebiet plötzlich im Mittelpunkt stand. Deutschland suchte den Superexperten. Das Problem daran: Mancher redete sich für ein bisschen Popularität um Kopf und Kragen.
So ergingen sich manche Virologen in Horrorszenarien von 50000 Toten in Deutschland. Andere bezeichneten den Impfstoff als sicher, obwohl sie das nicht wissen konnten – genauso wenig, wie sie wissen konnten, ob er unsicher ist. »Die Diskussion ist nicht mehr schön«, sagte Ludwig seinerzeit. »In Frankreich und Italien werden nüchtern jeden Tag die Zahlen aufgelistet – wie viele Menschen sind erkrankt, wie viele davon schwer, wie viele leicht. Diese Transparenz fehlt in Deutschland. Und die Indizien, die dagegen sprechen, dass die Schweinegrippe gefährlich ist, werden kaum kommuniziert.«
Dabei war auf der Südhalbkugel der Winter gerade vorbei, und dort gab es zumeist harmlose Verläufe. [91] Todesfälle im Verhältnis zur Zahl der Infizierten waren dort nicht häufiger als bei der saisonalen Grippe. In Neuseeland und Australien ermittelten Forscher einen schweren Verlauf pro 300 bis 400 Infektionen. [92] »Die breite Masse hat in Deutschland kaum eine Chance, sich ausgewogen über Nutzen und Risiken der Impfung zu informieren«, beklagte Ludwig. Zu wenige Fachleute standen dazu, dass die Wissenschaft nicht immer Antworten hat. »Als Experten müssten wir bei der Schweinegrippe öfter bekennen: Wir wissen es auch nicht genau«, sagte der Bremer Gesundheitswissenschaftler Norbert Schmacke.
Dafür gab es viele offene Fragen und Zweifel. »Warum mussten gleich Impfdosen für 50 Millionen Menschen bestellt werden?«, fragten kritische Ärzte. »Warum hat man sich nicht auf einen Stufenplan mit der Industrie geeinigt, der die Bereitstellung je nach Bedarf regelt?« Dass die Preiskalkulation für den Impfstoff absurd war – ein Euro der Wirkstoff, sechs Euro der umstrittene Wirkverstärker –, konnte nicht oft genug betont werden.
Wegen der unsystematischen Impferei werden Nebenwirkungen schlecht erfasst. Das pharmakritische »Arznei-Telegramm« betitelt seinen Bericht über den Impfstoff mit »Verträglichkeitsmythos und Empfehlungschaos«. Gerd Antes betonte, wie unseriös es sei, Impfstoffe als »sicher« zu bezeichnen – wie auch, sie zu verteufeln. Sie waren schlicht in dieser Zusammensetzung fast nicht erprobt.
Pandemrix, der Impfstoff für die Bevölkerung, der wie Asterix mit Ausschlag klingt, war vor der Zulassung nur an 61 Probanden getestet worden. Die dürftigen Erfahrungen wurden zuvor mit einem Modellimpfstoff gemacht, der neben dem wenig getesteten Wirkverstärker AS03 den Wirkstoff gegen das Vogelgrippe-Virus H5N1 enthielt. Dieser wurde kurzerhand gegen einen Wirkstoff gegen das Schweinegrippe-Virus H1N1 ausgetauscht. Aus wenigen Erfahrungen mit dem ersten Impfstoff abzuleiten, dass der zweite Impfstoff – mit dem noch weniger Erfahrungen bestehen – unbedenklich sei, hielt Ludwig »vorsichtig ausgedrückt für verwunderlich«. Nach all dem Durcheinander und den vielen offenen Fragen war für ihn klar: »Keiner kann bestreiten, dass wir gerade Teilnehmer eines riesigen Großversuchs sind.«
In der Rückschau stellte sich die Schweinegrippe bald als die weltweit erste Seuche heraus, die von Politikern, Pharmafirmen und fragwürdigen Experten übertragen wurde. Dafür war die Bundesregierung im Frühjahr 2010 großzügig geworden und stand eng befreundeten Nationen bei. Sie wollte die langsam ranzig werdenden Impfdosen preisgünstig an Länder verhökern, die sonst keine anderen Probleme haben, beispielsweise Albanien.
Und beim nächsten Mal? Wissen wir immerhin, dass wir beruhigt sein können. Die Forscher, die Politik und die Pharmaindustrie haben das schon im Griff, sie haben ja geübt. 2009 konnte man nur dankbar sein, dass kein wirklich bedrohliches Killervirus unterwegs war, sondern man trotz Tausender Toter weltweit – davon etwa 200 in Deutschland – aus mikrobiologischer Sicht über die Viren sagen musste: Die wollten nur spielen.
Industriefreundliche Symbolpolitik
Um den politischen Aktivismus anlässlich der Schweinegrippe besser zu verstehen, lohnt ein kurzer Blick in die Seuchengeschichte. Der Fall des US-Soldaten David Lewis 1976 ist ein Lehrbeispiel für überstürzte Impferei und Symbolpolitik. Im Januar 1976 starb Lewis an einer Infektion mit H1N1, einer Variante des Erregers der Schweinegrippe. Die Regierung Ford befand sich ein Jahr nach dem Fall von
Weitere Kostenlose Bücher