Heillose Zustände: Warum die Medizin die Menschen krank und das Land arm macht (German Edition)
Patienten an.
Also: 1995 warnte die britische Arzneimittelbehörde davor, dass Antibabypillen der dritten Generation das Risiko für Thrombosen verdoppeln könnten – verdoppeln bedeutet einen Anstieg um 100 Prozent. Daraufhin erhielten 190000 britische Hausärzte einen Warnbrief. Außerdem wurden Gesundheitsbehörden und Apotheker über das Risiko informiert. Die Behörde schaltete alarmistische Anzeigen in großen Zeitungen.
Doch was bedeuteten 100 Prozent in diesem Fall? Die Studien, die den Warnungen zugrunde lagen, hatten gezeigt, dass eine von 7000 Frauen, die eine Pille der zweiten Generation nahm, eine Thrombose bekam. Unter einer Pille der dritten Generation bekamen zwei von 7000 Frauen eine Thrombose. Die Veränderung von eins auf zwei kann man als Steigerung um 100 Prozent bezeichnen. Man kann auch sagen, das Zusatzrisiko ist zu vernachlässigen.
In England passierte das Gegenteil. Die neue Angst vor der Pille hatte dramatische Folgen. Zigtausende Frauen setzten die Pille ab, auch wenn sie keine Pille der dritten Generation nahmen. Plötzlich war jede Antibabypille suspekt. Im Folgejahr kam es in Großbritannien zu 13000 zusätzlichen Abtreibungen aufgrund ungewollter Schwangerschaften. Die Zahl der Teenager-Schwangerschaften der unter 16-Jährigen stieg um 800 an. Tragischerweise gehen Abtreibungen wie auch Schwangerschaften mit einem erhöhten Thromboserisiko einher, das um ein Vielfaches größer ist als jenes durch Einnahme der Pille. Das traurige Fazit: In Großbritannien kamen mehr Frauen zu Schaden, weil sie die Pille absetzten, als wenn sie weiter verhütet hätten wie bisher.
Man kann dieses Phänomen auf die statistische Unkenntnis medizinischer Laien schieben. Leider haben aber auch Ärzte ein Problem, Zahlen zu verstehen. Das gilt in Deutschland, im Rest Europas und auch in den USA, obwohl fast alle Fachartikel in Englisch verfasst sind. [93] Das ist kein Manko von akademischem Interesse, sondern diese mathematische Schwäche ist eine Gefahr für Patienten. Wenn Frauen nach einer Mammographie erfahren, dass beim Röntgen etwas Auffälliges entdeckt wurde, sollte der Arzt schon wissen, wie zuverlässig dieses Ergebnis ist. [94]
Tut er aber oft nicht. Obwohl sie alle notwendigen Daten zur Verfügung hatten, gaben Gynäkologen in einer Untersuchung die erstaunlichsten Antworten auf die Frage, ob ein auffälliger Befund bedeutet, dass die Frau Brustkrebs hat. Lediglich 21 Prozent der Frauenärzte lagen richtig und erkannten, dass nur eine von zehn Frauen mit auffälliger Mammographie tatsächlich Krebs hat. Der große Rest der »positiven« Befunde sind Fehlalarme. [95]
Gerd Gigerenzer, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, bezeichnet diese Ignoranz vieler Ärzte als »statistischen Analphabetismus«. [96] Wenn es sich dabei nur um wissenschaftliche Rechnereien handeln würde, könnte man das hinnehmen. Tatsächlich aber stehen medizinische Laien ständig vor Entscheidungen zu ihrer Gesundheit und erwarten Aufklärung vom Arzt. Schließlich wollen viele Frauen wissen, wie hoch das Risiko einer Chromosomenschädigung bei später Schwangerschaft ist und wie sich das Risiko einer Fruchtwasseruntersuchung dazu verhält. Soll die Tochter gegen Gebärmutterhalskrebs geimpft werden, oder ist die Häufigkeit des Tumors gering und der Schutz nicht sehr groß?
Aussagen ohne Dosisangaben sind besonders gefährlich. Vor kurzem trug ein Referent auf einer Veranstaltung für Ärzte diese Erkenntnis vor: Sauerstoff kann nicht schaden. Eine gefährliche Aussage. Bis in die 1970er Jahre wurde Frühgeborenen 100-prozentiger Sauerstoff in den Brutkasten geleitet. Erst nachdem zigtausend Babys geschädigt waren, bemerkten Ärzte, dass sich bei den Babys irreversibel die Netzhaut ablöste und sie erblindeten. Stevie Wonder hat sein Augenlicht wohl auf diese Weise eingebüßt.
Ärzte schneiden nicht gut dabei ab, wenn sie häufig gestellte Fragen beantworten sollen. Die Stiftung Warentest beauftragte im Jahr 2004 Testpatienten, sich bei Urologen in Berlin zu erkundigen, wie zuverlässig der PSA-Bluttest auf Prostatakrebs sei. Nur zehn Prozent der befragten Urologen gaben die wichtigen Informationen – nämlich dass der Test a) viele Tumore übersieht, b) oft falschen Alarm gibt, c) dass längst nicht alle entdeckten Krebsformen behandelt werden müssen und d) die Therapie häufig zu Inkontinenz und Impotenz führt.
Die Hamburger Gesundheitswissenschaftlerin
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