Heimat Mars: Roman (German Edition)
Stempel auf unseren Handrücken und ließ uns in den Warteraum.
»Der nächste Flug startet in fünf Minuten«, kündigte eine Grabesstimme an. Die Gesichter von Comic-Figuren schossen aus den Wänden und glotzten uns an – finstere Schurken aus einer populären LitVid-Serie.
»Totaler Schwachsinn«, bemerkte Shrug. »Ich hab gehofft, hier würde was Neues geboten.«
»Ich bin schon zweimal drin gewesen«, sagte eine Frau, deren Haut aus flexiblen Kupferplatten bestand. »Drinnen ist es echt stark.«
Orianna warf mir einen Blick zu. Alles okay?
Ich nickte, war aber nicht glücklich.
Kite machte, wie mir auffiel, ein völlig ausdrucksloses Gesicht, weder erwartungsvoll noch gelangweilt. Nach fünfminütiger Wartezeit nahmen die Gesichter an den Wänden einen betrübten Ausdruck an und verschwanden. Eine Tür ging auf, wir traten in eine große offene Disco, in der sich die Besucher bereits drängten.
Projektoren an der Decke und am Boden erzeugten den Eindruck eines Spiegelkabinetts. Der Platzanweiser hielt Kite und mich für ein Pärchen und trennte uns von den anderen, so dass wir nur unsere eigenen Spiegelbilder sahen. Shrug, Orianna oder andere Besucher waren nicht zu sehen, allerdings konnte ich sie schwach hören. Kite grinste mich an. »Vielleicht ein guter Ersatz für Mord«, sagte er.
Ich hatte keine Ahnung, was er meinte. Und ziemlichen Bammel.
Aber das war, wie ich mir sagte, nur die Angst des Hinterwäldlers vor dem Neuen. Ich straffte die Schultern, um mir auch körperlich Mut zu machen. Dies war nichts anderes als eine geistige Fahrt mit der Achterbahn.
Ein schlanker Mann mit goldener Haut tauchte nur wenige Schritte von uns entfernt auf einer Bühne auf. »Freunde, ich brauche eure Hilfe«, sagte er ernst. »In einer Million Jahren wird etwas völlig schieflaufen, die menschliche Rasse wird ausgelöscht werden. Was ihr hier und jetzt unternehmt, kann den Planeten und das Sonnensystem vor Mächten bewahren, die so riesig sind, dass man sie gar nicht richtig beschreiben kann. Wollt ihr mich in die nahe Zukunft begleiten?«
»Klar«, antwortete Kite und legte mir die Hand auf die Schulter.
Der Mann mit der Goldhaut und das Spiegelkabinett verschwanden. Wir schwebten im Sternenraum. Die Stimme des goldenen Mannes eilte uns voraus: »Bereitet euch bitte auf den Transit vor.«
Kite ließ meine Schulter los und nahm meine Hand. Wie erwartet, ließen wir die Sterne hinter uns, vor uns tauchte die Erde auf. Mir strömten Hintergrundinformationen in den Kopf.
In dieser Zukunft wird jede zielgerichtete Handlung von tief verwurzelten molekularen Chakras gesteuert, die in jedem Menschen bei der Geburt installiert werden. Diese Chakras sind Wächter und Lehrer. Euer erstes Chakra ist ein guter Freund. Aber es ist ein verhängnisvoller Irrtum passiert: In den Kinderkliniken ist eine bestimmte Entwicklung freigesetzt worden. Ein bösartiges Chakra hat eine ganze Generation befallen. Man hat euch eines wesentlichen Geburtsrechtes beraubt, ihr seid von Energie und Nahrung abgeschnitten. Eine Generation lebt mitten im Überfluss, dennoch verhungert sie. Ihr müsst jetzt eine Klinik der Natürlichen Wiedergeburt auf der Erde finden, die eine schreckliche Bedrohung darstellt. Und dann müsst ihr alle Chakras vernichten, die Wurzeln eurer neuen Seelen entdecken und jene, die von ihren bösartigen Meistern gesteuert werden, daran hindern, die Sonne gewaltsam zu einer Supernova zu machen.
»Klingt ziemlich lahm«, flüsterte ich Kite zu.
»Warte noch ein bisschen«, sagte er.
Über diese Erde der Zukunft erfuhr ich mehr, als mir lieb war. Es gab dort keine Städte im eigentlichen Sinne – die Wildnis hatte inzwischen alle Kontinente überwuchert. Das lag, wie ich erfuhr, daran, dass ich mein Chakra nicht aktivieren und deshalb auch nicht zielgerichtet handeln konnte.
Irgendwo in der Klinik der Natürlichen Wiedergeburt befindet sich euer Lehrer. Ihr wisst nicht, wie er oder sie oder es aussieht. Es kann sogar eine Blume oder ein Baum sein. Aber euer Lehrer hat den Schlüssel, mit dem ihr die Herrschaft wiedererlangt …
Es gab kaum etwas, das mich mehr hätte langweilen können. Ich wollte Kite zulächeln und ihm versichern, dass es überhaupt nicht schlimm sei, nicht einmal so schlimm wie Oriannas Sim-Schnulze.
Aber dann änderte sich meine Stimmung mit einem Schlag. Angst und tiefe Abscheu erfüllten mich – vor dem bösen Chakra, vor dem Verlust meines Geburtsrechtes, vor dem drohenden Ende von allem.
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