Heimat Mars: Roman (German Edition)
sehr klug. Du musst herausfinden, worin eure Stärke bestehen könnte.«
»Wir besitzen viel mehr Stärke …« Ich brach ab. Als die Erde sich vorstellen kann. Geistige Stärke. Ich war drauf und dran, eine patriotische Verteidigungsrede zu halten, die ich selbst nicht vertreten konnte. In Wirklichkeit hatten sie ja recht.
Der Mars brachte keine großen Politiker hervor, sondern nur widerliche kleine Krabbeltierchen wie Dauble und Connor. Oder verrückte junge Sturköpfe wie Sean und Gretyl. Es ging mir gegen den Strich, dass man mich mit der Nase auf diese unangenehme Tatsache gestoßen hatte. Der Mars war eine kleinkarierte Welt, eine gehässige und mürrische Welt. Wie sollte er irgendeine Gefahr für die starke, weise, vereinte Erde darstellen?
Orianna blickte auf die kahle Wand und seufzte. »Ich wollte dich in keine blöde Situation bringen. Ich hätte vorher mit dir darüber reden sollen.«
»Es war mir eine Ehre«, sagte ich. »Ich war nur nicht darauf vorbereitet.«
»Komm, wir suchen Kite und Shrug«, schlug sie vor. »Ich kann mir nicht vorstellen, hier zu leben.« Sie zitterte leicht. »Aber vielleicht bin ich ja auch nur altmodisch.«
Wir schlossen uns wieder Kite und Shrug an und verbrachten mehrere Stunden mit einem Einkaufsbummel durch das alte New York. Dort gab es richtige Geschäfte, die ausschließlich echte Handelsware führten. Ich fühlte mich doppelt altmodisch: Das Viertel, das an sich schon eine historische Rekonstruktion darstellte, machte mir Angst und verwirrte mich.
Kite und Shrug betraten ein Herrenausstattungsgeschäft aus dem frühen einundzwanzigsten Jahrhundert, wir folgten ihnen. Ein Verkäufer brachte sie zu Ankleidekabinen, machte mit einer kuriosen digitalen 3 D-Kamera Aufnahmen von ihnen und zeigte ihnen dann, wie sie in der Mode dieser Saison aussehen würden. Bei mehreren Outfits äußerte sich der Verkäufer begeistert. »Wir können sie in zehn Minuten liefern, wenn Sie warten möchten.«
Kite bestellte einen förmlichen Gesellschaftsanzug und bat, ihn an eine Deckadresse zu liefern. Shrug wollte nichts kaufen. Wir gingen schon auf die Tür zu, als der Verkäufer uns nachrief: »Oh! Entschuldigung, fast hätte ich’s vergessen. Für Kunden … und ihre Freunde habe ich Freikarten für den Zirkus Geist.«
Kite nahm die Karten an und zeigte sie uns. Seine eigene Karte stopfte er sich in den Mund und kaute nachdenklich darauf herum. »Wollen wir alle gehen?«, erkundigte er sich.
»Was ist es denn überhaupt?«, fragte Orianna.
»Ori weiß einmal in ihrem Leben nicht Bescheid!«, amüsierte sich Shrug.
»Muss wirklich neu sein«, sagte sie ärgerlich.
»Stimmt genau«, warf der Verkäufer ein. »Ganz aktuell.«
»Live-Sims mit viel Power«, sagte Kite. »Also neu. Kein Eintritt, bis es mal richtig läuft und die Menge abends Schlange steht. Möchtest du es sehen, Casseia?«
»Es könnte zuviel werden«, warnte Orianna.
Das fasste ich als Herausforderung auf. Obwohl ich erschöpft und von meiner Begegnung mit Miss Muir ein bisschen niedergedrückt war, wollte ich – schon wegen Kite – nicht weniger forsch als die anderen wirken.
»Gehen wir«, sagte ich.
Kite gab uns unsere Karten. Ich starrte meine an. »Kauen«, sagte er. »Checkt dich durch, sieht, ob du für das Erlebnis bereit bist, und dann erscheint ein Stempel auf deinem Handrücken.«
Ich schob die Karte langsam in den Mund und kaute. Sie schmeckte nach einem von der Sonne durchwärmten Blumengarten, es kitzelte ein bisschen in der Nase. Ich musste niesen.
Der Verkäufer lächelte. »Viel Spaß«, wünschte er uns fröhlich.
Der Zirkus Geist nahm das fünfte und sechste Obergeschoss eines Hochhauses aus dem zwanzigsten Jahrhundert ein, des Empire State Building. Ich zog mein Kom zu Rate und erfuhr, dass ich nicht weit von der Penn Station entfernt war – gut zu wissen, falls ich flüchten wollte und meine Freunde ganz wild auf den Spaß und zum Bleiben entschlossen waren. Kite nahm meinen Arm. Orianna zog die Aufmerksamkeit einer Gruppe von LitVid-Reportern, Robotern, auf sich, die nach Größen der Gesellschaft Ausschau hielten. Kite sorgte um uns herum für Verwirrung, indem er mehrdimensionale Bilder projizierte, die vorgaukelten, er befände sich in Begleitung von vier oder fünf Frauen. Auf diese Weise schafften wir es unbehelligt bis zur Empfangstheke. Eine über zweieinhalb Meter große Frau, deren kastanienbraunes Haar die mit Sternen übersäte Zimmerdecke berührte, prüfte die
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