Heimat Mars: Roman (German Edition)
was sie selbst beim Unterzeichnen empfunden hatte. Während sie ihre Worte formulierte, runzelte sie fast unmerklich die Stirn. Alle diese Menschen waren Mitstreiterinnen und Mitstreiter. Der Moment war gekommen, ihr Moment in der Geschichte. Der organische Prozess hatte sie wie ein Strom erfasst und mitgerissen …
In diesem Augenblick, in dem die Zeit aufgehoben war, empfand ich für sie so, wie ich früher nur für meine Familie oder meinen Mann empfunden hatte. Und die Gefühle, die ich für jene hegte, die außerhalb unserer gemeinsamen Entwicklung standen und sie ablehnten, ähnelten der Haltung der Vogelmutter gegenüber der Schlange, die ihre Eier stehlen will.
In mir mischte sich Liebe mit Angst, das süße Gefühl, etwas erreicht zu haben, mit der nagenden Sorge vor dem, was kommen mochte …
Ich wandte mich um und richtete den Blick auf die Saalecke, in der ich vor Jahren mit Charles und Diane, Sean und Gretyl gestanden hatte. Und ich gelobte mir, dass eine solche Ungerechtigkeit nie wieder geschehen würde.
Die Delegierten verteilten sich über den Mars, um ihren Leuten die vorgeschlagene Verfassung vorzustellen. Von Pol zu Pol fanden Bezirksversammlungen statt. Die Marsianer nahmen das Dokument gründlich unter die Lupe, prüften die Grundrechte wie die Analysen, die mit Hilfe der Juristischen Logik erstellt worden waren.
Es kam auch zu Zwischenfällen. In Lowell Crater, Aonia, wurde ein Delegierter von einem Mob zusammengeschlagen, der aus andersdenkenden Wasserbauarbeitern bestand. Drei Leute, die Delegierte beraten hatten, wurden von ihren Familien ausgestoßen und in die Verbannung geschickt. Auf der Grundlage der noch geltenden alten Gesetze des Rates wurden mehrere Klagen eingereicht.
Derweil umgab die BG Cailetet ihre Stellungen in den Bezirken – metaphorisch gesprochen – mit Schützengräben, nahm die BGs der Dissidenten als Leithenne unter ihre Flügel und diente sich der Erde an (was die Erde eine Zeitlang höflich ignorierte).
Die Erde war geduldig.
Ich sah Ilya etwa jeden fünften Tag, und wenn er Feldforschung betrieb, sogar noch seltener.
Man hatte Ilya zum Leiter der Forschungsgruppe in Olympia ernannt, die sich mit der Reproduktion von Kapseln befasste. Er arbeitete eng mit Professor Jordan-Erzul und Dr. Schowinski zusammen. An einem denkwürdigen, da für mich dienstfreien Tag zeigte Ilya mir einen breiten Canyon in Cyane Sulci. Hier sollte ein wichtiges Experiment mit Mutterkapseln durchgeführt werden. Man würde das beste aller bekannten Exemplare der Marsatmosphäre aussetzen, es mit einem Gemisch aus Eis und Mineralien bestäuben, mit Infrarotlampen bestrahlen, mit einer Kuppel abdecken und dem Druck von einem Zehntel Bar unterwerfen. Nach monatelangen Vorbereitungen waren die Biologen aus Rubicon City recht optimistisch, dass es klappen und ein Ergebnis zeitigen würde.
Wenn Ilya und ich uns trafen, übernachteten wir stets außerhalb unseres Zuhauses, in Gästesuiten und Gasthöfen. Dort waren wir auf die Kreativität der regionalen Küche angewiesen, die ganz unterschiedlich ausfallen konnte …
Während dieser ganzen Zeit, dieser langen Monate, in denen ich zu Bezirksversammlungen reiste, mit dem Zug oder Shuttle von Stützpunkt zu Stützpunkt fuhr, die Menschen zu überzeugen suchte, ihnen gut zuredete (und wenn das nichts half, drohte) und die Grundzüge der künftigen marsianischen Staatsform erläuterte.
Bei Frühlingsanfang des Marsjahres 58 stimmten die Bürgerinnen und Bürger des Mars über die Verfassung ab. Unsere geduldige Arbeit und die Vorbereitungen führten zu den erhofften Ergebnissen: Die Verfassung wurde angenommen. Sechsundsechzig Prozent der Wählerinnen und Wähler hatten dafür gestimmt, dreißig Prozent dagegen, vier Prozent hatten sich enthalten. Sieben Bindende Gruppen, darunter Cailetet, hatten die Teilnahme an dieser Wahl abgelehnt, so dass die Lage in drei großen Bezirken und teilweise auch in vier anderen Bezirken ungeklärt war. Gegenwärtig waren sie nicht in die politische Entwicklung einbezogen.
Die Interimsregierung würde ihre Arbeit noch fünf Monate fortsetzen. Während dieser Zeit sollten die Kandidatinnen und Kandidaten für die neuen Ämter nominiert und gewählt werden. Es stand auch noch die Frage der Hauptstadt zur Entscheidung an, vielleicht würde sogar eine ganz neue Stadt erbaut werden. Die Bezirke mussten die offizielle Volkszählung des Bundes durchführen. Man musste die Flut von Bewerbungen für die neu
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