Heimat Mars: Roman (German Edition)
entwickelt, die Skelettnadeln eines Schwammes ähnelten. Aber Ilyas Forschungsgruppe war optimistisch. Vom Kontrollraum aus beobachteten wir, wie das Team die Bedingungen unter der Kuppel um Grade und Prozente veränderte: Aus dem grauen Eisstaub wurde schlammiger Regen, dann Schnee, die Konzentration von Mineralien und atmosphärischen Gasen änderte sich.
»Unser Ziel besteht darin, am Wahltag ganz groß herauszukommen«, erklärte Ilya Ti Sandra. »Und wenn’s nur deswegen ist, um euern Wahlsieg aus den Schlagzeilen der LitVids zu verdrängen …«
Ti Sandra nickte völlig ernst. »Ich war auch lieber hier.«
»Bitte«, sagte ich zu meinem Mann. »Spar dir den Witz, dass man hier ja auch die künftigen Wählerinnen und Wähler des Mars heranzüchtet.«
»Auf die Idee wäre ich doch nie gekommen«, erwiderte Ilya.
Ti Sandra sah ihn mit großen Augen und bewusst affektiert verzogenem Mund an: »Hör nicht auf sie. Schließlich hilft uns schon der kleinste Beitrag.«
Die Kapseln lagen wie große schwarze rauschalige Eier im roten Sand. Linear angeordnete Einstülpungen überzogen ihre jetzt von Schneeflocken bestäubten dunklen Oberflächen wie Bänder. Die Kuppelverstrebungen warfen Schatten, die das Gelände mit einem Gittermuster zerteilten. Aus allen Richtungen drangen die dünnen, gespenstischen Geräusche der für dieses Experiment entwickelten Brutapparate.
Der alte Mars brütet überall Neues aus, dachte ich, als wir uns zum Aufbruch rüsteten. Falls uns die richtige Kombination gelingt.
Ich umarmte und küsste Ilya und folgte Ti Sandra. Leibwächter und zwei bewaffnete Roboter nahmen uns in die Mitte und geleiteten uns durch den Tunnel zum Shuttle-Landeplatz.
Wir würden uns wohl erst am Wahlabend wiedersehen. Mein letztes Bild von Ilya ist, wie er auf der Aussichtsplattform der Station steht, inmitten unserer zurückbleibenden Leibwächter. Er winkt in unsere Richtung und wirkt gedankenverloren. Plötzlich überkam mich ein Gefühl inniger Wärme für ihn. Für ihn, für seine Geduld, für seine Schönheit. Ich weiß noch, dass wir bei diesem letzten Kuss unsere Lippen gar nicht voneinander lösen wollten. Wir wussten, dass bis zum nächsten Wiedersehen Wochen vergehen konnten.
Ilya. Er war gerade zwei Jahre mein Mann.
Mein Mann.
FÜNFTER TEIL
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M ARSJAHR 60
I N DEM ABGEDUNKELTEN D ISKUSSIONSRAUM standen Ti Sandra und ihr gefährlichster Gegenkandidat, Rafe Olson aus Copernicus, in goldenes Licht getaucht hinter Stehpulten. Ti Sandra blickte mit warmem Blick ins Publikum, lächelte und nickte. Die Debatten fanden alle in der Mars-Universität Sinai statt und wurden live auf dem ganzen Mars ausgestrahlt. Drei Millionen erwachsener Marsianer sahen loyal zu, ein Zehntelprozent der Zuschauer, auf die es der populärste LitVid-Sender der Erde brachte.
Die Angelegenheiten des Mars waren in Zahlen ausgedrückt von geringer Bedeutung, hatten aber starke emotionale Wirkung. Die Wahlankündigungen der LitVids wurden zusammen mit Kommentaren aus dem Dreierbund bereits über das ganze externe Netz verbreitet. Der Wahlkampf auf dem Mars war als erste Bewährungsprobe einer gerade erst geborenen und noch ungeübten Weltnation überall in den Schlagzeilen.
Ich hatte die Debatten mit meinen Opponenten durchgestanden und mich dabei ganz gut gehalten, aber an Ti Sandra reichte niemand auf dem Mars heran. Sie war mit solchem Stil und solcher Eleganz in ihre Rolle hineingewachsen, dass ich mich fragte, wer sie je ersetzen sollte. Auf Druck reagierte sie mit Flexibilität, schüttelte ihn einfach ab und ging aus einer solchen Situation noch stärker hervor.
Olson war umgänglich und tüchtig und beherrschte sein Handwerk. Ich habe oft gedacht, dass er einen guten Präsidenten abgegeben hätte. Vielleicht wäre er politisch klüger als Ti Sandra gewesen. Aber Führerschaft hat noch nie allein auf Klugheit beruht. Wir wussten, dass Olson mindestens drei Erweiterungen hatte implantieren lassen, zwei betrafen sein soziales Verhalten, eine sein technisches Wissen. Aber was Instinkt und Stil betraf, konnte er Ti Sandra nicht das Wasser reichen.
Ich saß in der ersten Reihe. Zu meiner Linken hatte ich Dandy Breaker, zu meiner Rechten den Rektor der Mars-Universität Sinai und seine Frau, hinter mir tausend Studentinnen und Studenten in den stufenartig angeordneten Rängen. Die Szene hätte aus einem viel früheren Jahrhundert stammen können. Es war ein sehr demokratischer, sehr menschlicher Wettstreit
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