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Heimat Mars: Roman (German Edition)

Heimat Mars: Roman (German Edition)

Titel: Heimat Mars: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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sechzig oder siebzig hartgesottenen, skeptischen und ziemlich sturköpfigen Erntearbeitern (zuständig für Wasserpflanzen) trafen. Ti Sandra setzte dann stets ihren strengen, aber mütterlichen Charme ein. Wenige Stunden später die nächsten Termine: Abklappern von einem halben Dutzend wirtschaftlich starker Lanthanminen in Amazonis und Arcadia. Die härtesten Brocken waren gegen Ende des Wahlkampfes die kleinen, miteinander verbundenen BGs in Terra Sirenum, die fest in der Hand unserer Hauptopponenten waren.
    Unsere politischen Gegner führten einen heftigen, sogar scharfen Wahlkampf, aber die Marsianer waren immer noch zu höflich, um unter die Gürtellinie zu schlagen. Trotzdem: Jeder wusste ja über die Wahlkämpfe bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen des zwanzigsten Jahrhunderts Bescheid, ehe die direkte Volksabstimmung eingeführt worden war, und manche unserer Gegner orientierten sich an so meisterlichen Vorbildern wie Richard Nixon oder Lyndon Johnson. Ich persönlich fand Nixon und Johnson furchtbar abstoßend und zog eher den ›Rau-aber-herzlich‹-Stil der Kandidaten der baltischen Wirtschaftsgemeinschaft im einundzwanzigsten Jahrhundert vor.
    Die Schlammschlachten marsianischer Politik, die ja praktisch noch in den Kinderschuhen steckte, arbeiteten für uns. Meistens machten sich unsere Gegner gegenseitig fertig und ließen uns außen vor, da Ti Sandra als ›Mutter der Republik‹ einen ganz eigenen Status hatte. Debatten und andere Begegnungen brachten uns einen ständigen Stimmenzuwachs bei örtlichen Meinungsumfragen.
    Das ständige Reisen schlauchte uns. Im vertraulichen Gespräch äußerte Ti Sandra, sie wünsche sich, dass Charles und seine Leute auf der Stelle auch kleinere Objekte bewegen könnten: »Mein Körperumfang ist zwar groß, aber nicht derart groß. Und wir haben eine Pause wirklich nötig.«
    Die Pause trat nicht ein.
    In den wenigen Minuten, die mir jeden Tag zur freien Verfügung blieben, befasste ich mich mit mathematischen Texten und Vids, die mir das externe Netz lieferte, und speicherte abonnierte Supplement meiner Programme ab. Alice arbeitete einen Studienplan aus, um mein sowieso schon schnelles ›Absorbieren‹ der Erweiterungsfunktionen noch zu beschleunigen. Was mir früher öde und willkürlich vorgekommen war, wurde jetzt zu einem faszinierenden Spiel, das viel strukturierter und anspruchsvoller als die Politik war. Ich arbeitete mich noch intensiver in die allgemein akzeptierte Informationstheorie ein, in die Wechselwirkung neuraler Elemente, die Umwandlung von Information in Wissen und fand den Übergang zu dem, was Charles und die Olympier mit der Physik angestellt hatten … In jenen kostbaren Minuten fiel ich neben der schlafenden Ti Sandra oft in Tagträume und sah den dunklen Mars unter uns wie eine dunkle Decke unterhalb des Diamanten übersäten Himmels vorbeiziehen. Das ständige Pumpengeräusch der Shuttle-Antriebe wiegte mich in einen Zustand, in dem ich selbst zu den Zahlen und graphischen Darstellungen wurde.
    Dennoch gab es etwas, das ich nicht bewältigte: Ich konnte nicht auf lineare Weise den Sprung nachvollziehen, den Charles von der Informationstheorie zum Verständnis des Bell-Kontinuums geschafft hatte. Je mehr ich verstand, desto mehr bewunderte ich das, was Charles getan hatte. Es schien außerhalb aller natürlichen Möglichkeiten zu liegen.
    Wenn dieser Sprung erst einmal geschafft war, überraschte es immer weniger, dass wir Welten bewegen und ohne Zeitverzug kommunizieren konnten; dass ein Paradigma zum Sterben verurteilt war und ein anderes geboren wurde. Die Deskriptor-Theorie blühte in mir auf und senkte ihre Wurzeln in alle Unwägbarkeiten der Physik, sie hob die Widersprüche und Unermesslichkeiten der Quantenmechanik auf.
    Wenn ich irgend Zeit fand, besuchte ich Ilya. Das Team von Cyane Sulci hatte eine größere Testkuppel für das erste große Experiment mit der unversehrten Mutterkapsel fertiggestellt. Ilya führte Ti Sandra und mich herum, wie er es vorher schon mit vier anderen Paaren von Präsidentschaftskandidaten getan hatte. »Ich muss auf Nummer Sicher gehen«, sagte er mit einem Augenzwinkern in meine Richtung. »Politik ist ein derart ungewisses Geschäft.«
    Unter der fünf Hektar großen Kuppel sahen wir zu, wie grauer Eisstaub allmählich das Gelände überzog und pulverige Pfützen rund um die freiliegenden Kapseln bildete. Bisher hatten sich dabei nur Schleim und einige darin eingebettete Silikatformen

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