Heimat Mars: Roman (German Edition)
mir den Laufpass gegeben hat, weißt du noch? Auch ich hab ein bisschen Stolz. Ich hab mir gedacht: Falls sie ihre Meinung geändert hat, wird sie sich schon melden.«
»Ganz schön eingebildet«, sagte ich. »Beziehungen beruhen auf Gegenseitigkeit.«
Er biss sich auf die Zunge, um nichts auszusprechen, was er nicht aussprechen wollte, und wandte den Blick ab. »Deine Welt ist mir inzwischen zu groß geworden. Mit dem Warten wird’s wohl nichts.«
Ich starrte ihn bloß an.
»Du bist reifer geworden, du bist dabei, alles zu schaffen, was ich dir zugetraut habe. Ich wünsche dir nur das Beste. Ich werde dich immer lieben.«
Er verbeugte sich, machte kehrt, ging fort und ließ mich völlig verwirrt zurück. Ich war ihm wie einem alten Freund begegnet, er hatte das peinliche Thema aufgewärmt, das ich als längst gegessen betrachtet hatte. Und das genau in dem Moment, als ich ihm von den einmaligen Aussichten meines jungen Lebens erzählt hatte. Das war in emotionaler Hinsicht die reinste Erpressung, die meine tiefste Verachtung verdiente.
So schnell wie möglich lief ich über das mit Planen abgedeckte Feld, legte meine Handfläche zur Identifizierung an die Tür und betrat ein Toilettenhäuschen. Dort blieb ich vor einem leise plätschernden Becken stehen, starrte in den einsamen runden Spiegel und fragte mich wütend, warum ich so fertig und deprimiert war.
»Ich bin froh, dass ich ihn los bin«, versuchte ich mir selbst einzureden.
Ich mochte Charles mein Leben lang. Nie habe ich einen Charakterzug an ihm entdeckt, der mir missfallen hätte. Aber selbst heute, nachdem mich ein hundertjähriges Leben von der Casseia von damals trennt, gelingt es mir nicht, die junge Frau einen Dummkopf zu schimpfen.
Dies alles habe ich als triviale Einleitung zu dem Kapitel erzählt, das weder Charles noch ich uns hätten träumen lassen. Heute werfe ich einen Blick zurück und erkenne, wie unaufhaltsam die Entwicklung über die folgenden sieben Marsjahre auf das Ereignis zusteuerte, das zum größten Ereignis in der Geschichte der Menschheit werden sollte.
Ich habe von alltäglichem Schmerz, von alltäglichem Leben erzählt. Aber das Rieseln von Staubflocken kann sich zum Sturm auswachsen.
Du kannst wieder heimkehren, aber es wird dich etwas kosten.
Gegen Ende des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts waren Reisen zwischen Mars und Erde immer noch ein Luxus, den sich nur große Unternehmen, die Regierung oder sehr reiche und vergnügungssüchtige Leute leisten konnten. Ein Durchschnittsbürger musste für die Reise von der Erde zum Mars oder vom Mars zur Erde mehr als zwei Millionen Dreierbund-Dollar hinblättern, nur dann kam er in den Genuss, der so wenigen vorbehalten war.
Die Masse musste sich damit begnügen, ihre Nachrichten als Daten zu übermitteln, die mit Lichtgeschwindigkeit übertragen wurden. Für persönliche Gespräche zwischen zwei Menschen bedeutete das eine natürliche Barriere.
Beim Abstand Erde – Mond beträgt die Verzögerung der Antwort rund zweizweidrittel Sekunden. Gerade so viel, dass man Luft holen kann. Gerade so wenig, dass man nicht gänzlich den Faden des Gesprächs verliert. Beim Abstand Erde-Mars betrug die Verzögerung – je nach Stand der Planeten – zwischen vierundvierzig und knapp sieben Minuten.
Es dauerte nicht lange, bis die Kunst der Konversation zwischen Erde und Mars verlorenging.
ZWEITER TEIL
2175-2176
M ARSJAHR 54-55
S OBALD ICH ERFUHR , DASS ICH JETZT zum engsten Kreis der Kandidaten für ein Praktikum zählte, stürzte ich mich erneut ins Studium der Politik und Kulturgeschichte der Erde. Über das, was die meisten Marsianer während ihrer Ausbildung normalerweise darüber lernten, war ich längst hinaus. Ich war inzwischen, für den Mars etwas ungewöhnlich, so etwas wie eine Terraphile. Und nun musste ich zur Expertin werden.
Ich konnte mir die Fragen, die man mir stellen würde, ungefähr vorstellen. Ich wusste, es würden sowohl Einzelgespräche als auch schwierige Prüfungen stattfinden. Aber ich hatte keine Ahnung, wer die Examina leiten würde. Beim Lernen wusste ich nicht, was stärker war: meine Erleichterung oder meine Nervosität. Meine erste Gesprächspartnerin würde Alice sein, der zentrale Denker oder besser: die zentrale Denkerin von Majumdar.
Das Gespräch fand in Ylla statt, in einem Büro, das eher formellen, familienübergreifenden Geschäftsbesprechungen vorbehalten war.
An diesem Morgen ließ ich mir mit dem Anziehen Zeit und wählte
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