Heimat Mars: Roman (German Edition)
stärksten wirtschaftlichen und politischen Macht der Erde gemausert. Innerhalb der GOWA hatten die Vereinigten Staaten ihre Stellung als primus inter pares halten können. Auf dem Mars war man allerdings der Meinung, dass die Vereinigten Staaten von der GOWA nur vorgeschoben wurden. Die Vereinigten Staaten hatten den Mars wissen lassen, sie seien sehr enttäuscht, dass der Vereinigungsprozess des Mars sich derart in die Länge ziehe. Jetzt forderten die Vereinigten Staaten direkte Gespräche und verlangten die persönliche Anwesenheit und Stellungnahme eines Marsianers, dessen Meinung Gewicht hatte.
Auf seltsame Weise wirkte das alles äußerst romantisch und abenteuerlich. Wenn alle ganz praktisch gedacht hätten, wäre mir die Chance, zur Erde zu reisen, bestimmt entgangen. Aber selbst die patriotischsten Roten Karnickel blickten mit Ehrfurcht auf die Erde. Unabhängig davon, was wir von ihrer ›Politik der starken Hand‹, von ihrer Technik-Besessenheit, von der überschwappenden Welle biologischer Experimente, von ihrem unglaublich materiell ausgerichteten Denken halten mochten: Auf der Erde konnte man nackt unter freiem Himmel herumspazieren. Und das war etwas, das wir alle wenigstens einmal im Leben gern ausprobiert hätten.
Also bewarb ich mich nach zwei Fehlschlägen noch einmal beim Rat. Ich glaube, es war meine Mutter, die bei dieser dritten Bewerbung an bestimmten Fäden zog. Zugegeben hat sie es nie. Jedenfalls wurde meine Bewerbung weitergereicht – weiter als je zuvor. Mein Vorstellungsgespräch fand auf viel höherer Ebene als bisher statt, und schließlich wurde mir mitgeteilt, man habe mich in die engere Wahl gezogen.
Das letzte Mal, dass Charles und ich in dieser Dekade zusammentrafen, war im Jahre 2173. Während ich auf den Einstellungsbescheid wartete, arbeitete ich ein Vierteljahr als Ratsbotin in Ulysses und war dem Büro von Bette Irvine Sharpe, der Unterhändlerin von Groß-Tharsis zugeteilt. Bei der Arbeit für Sharpe lernte ich eine Menge. Meine Mutter hielt es für ein Zeichen hoher BG-Gunst, dass man mich gerade für diese Arbeit eingeteilt hatte.
Während dieser Zeit nahm ich an einer Tanzveranstaltung in einer Scheune teil. Sie sollte dazu dienen, Gelder für die Forschungsuniversität Tharsis locker zu machen. Diese Universität war gerade erst gegründet worden, aber jetzt schon ein Zentrum der theoretischen Wissenschaft. Hier konzentrierte sich auch die Forschung, die sich mit der Künstlichen Intelligenz, mit den ›Denkern‹ des Mars befasste.
Charles war dort mit einer jungen Frau, die ich auf den ersten Blick nicht mochte. Wir entdeckten einander unter der mit Bändern geschmückten durchsichtigen Kuppel, die man zur Feier des Tages auf brachliegendem Ackerland errichtet hatte.
Ich trug ganz bewusst ein gewagt geschnittenes Kleid, das noch unterstrich, was ich gar nicht hätte unterstreichen müssen. Charles hatte langweilige Unisachen an, einen grünen Rollkragenpullover und dunkelgraue Hosen. Es gelang ihm, sich aus den Klauen seiner Freundin zu befreien. Schließlich saßen wir einander an einem Tisch gegenüber, der mit frischem, jüngst gezüchteten Gemüse beladen war. Er sagte: Du siehst toll aus. Ich lobte meinerseits seine Klamotten, aber es war geheuchelt: Sie waren grässlich. Er wirkte gelassen, ich war nervös. Immer noch hatte ich ein schlechtes Gewissen wegen dem, was zwischen uns gewesen war. Ein schlechtes Gewissen, in das sich ein weiteres Gefühl mischte: Ich fühlte mich in seiner Nähe beklommen, obwohl ich ihn nach wie vor als Freund betrachtete.
»Ich hab mich für ein Praktikum beim Syndikat beworben. Ich würde gern zur Erde gehen«, sagte ich. »Ich hab gute Chancen, dass es klappt. Vielleicht nimmt mich mein Onkel Bithras mit zur Erde.«
Charles sagte, er freue sich für mich, fügte allerdings traurig hinzu: »Falls das klappt, wirst du ja zwei Jahre fort sein. Ein ganzes Marsjahr.«
»Das geht vorbei wie im Flug«, sagte ich.
Er warf mir einen skeptischen Blick zu. »Ich hab dir ja gesagt, dass ich nie aufhören werde, dich als Lebensgefährtin zu begehren.«
»Du hast nicht gerade lange gewartet«, sagte ich. Ein plötzlicher Anflug von Wut und Verlegenheit ließ mich erröten, mein Ton klang scharf.
Charles reagierte jetzt schneller und hatte mehr Erfahrung mit Menschen als früher. »Du hast mich ja auch nicht gerade ermutigt.«
»Du hast dich nie gemeldet«, beschwerte ich mich.
Er schüttelte den Kopf. »Du warst diejenige, die
Weitere Kostenlose Bücher