Heimat Mars: Roman (German Edition)
Vielleicht war ich naiv, aber ich hab noch nie richtig darüber nachgedacht, wie du auf andere wirken könntest. Wir haben dich zu einem anständigen Menschen erzogen …«
» Bitte, Vater.«
Er holte tief Luft. »Ich will dir etwas über Mutter und mich erzählen, das du noch nicht weißt. Betrachte es einfach als eine Sache, die ich meinen Geschlechtsgenossen schuldig bin. Weißt du, Frauen können Männern schrecklich weh tun.«
»Das weiß ich.« Meinen Jammerton konnte ich selbst nicht ausstehen.
»Lass mich ausreden. Manche Frauen halten Männer für rabiat. Sie sind der Meinung, man solle es ihnen nur kräftig geben, da Männer ja auch austeilen. Aber wenn du Männern aus Gedankenlosigkeit weh tust, dann missfällt mir das nicht weniger, als wenn Stan Frauen weh tun würde.«
Ich schüttelte hilflos den Kopf. Ich wollte nur noch meine Ruhe.
»Familiengeschichte. Denk dir dein Teil. Deine Mutter hat ein Jahr lang zwischen mir und einem anderen Mann geschwankt. Sie hat gesagt, sie liebe uns beide und könne sich nicht entscheiden. Ich konnte den Gedanken, sie mit einem anderen Mann zu teilen, nicht ertragen. Aber ich brachte es auch nicht fertig, mich von ihr zu trennen. Nach und nach löste sie sich von dem anderen Mann und sagte mir, sie habe sich für mich entschieden, aber … es tat schrecklich weh. Und nach dreizehn Jahren hab ich’s immer noch nicht verwunden. Wie gern wäre ich großzügig, verständnisvoll und nachgiebig, aber wenn ich seinen Namen höre, gibt es mir immer noch einen Stich ins Herz. Für Menschen wie uns ist das Leben nicht leicht. Wir denken gern, wir hätten unser Leben selbst in der Hand, aber das haben wir nicht, Casseia. Es stimmt nicht. Ich wünschte, bei Gott, es wäre anders.«
Ich konnte nicht fassen, dass Vater mir all diese Dinge erzählte. Ich wollte sie gar nicht hören. Mutter und Vater hatten sich doch immer über alles geliebt, würden sich immer lieben. Ich war ganz sicher nicht aus einer Laune heraus oder auf der Grundlage wankelmütiger Gefühle gezeugt worden. Ich war nicht das Ergebnis einer solch chaotischen Beziehung, wie sie zwischen Charles und mir bestand.
Einige Sekunden brachte ich kein Wort heraus. »Bitte geh jetzt«, sagte ich schließlich und fing an, hemmungslos zu schluchzen. Vater murmelte eine Entschuldigung und verließ mein Zimmer.
Am nächsten Morgen brachte ich Charles nach einem Frühstück, das kein Ende nehmen wollte, zum Bahnhof von Kowloon. Wir küssten uns fast wie Bruder und Schwester, sagen konnten wir beide vor Kummer nichts. Einen Augenblick lang hielten wir uns bei den Händen und starrten einander ebenso befangen wie aufgewühlt an. Dann stieg Charles in den Zug. Ich drehte mich um und rannte davon.
Allmählich formierten sich Fraktionen.
Die BG Klein hatte im Rat Solidaritätsgarantien beantragt, die ihr jedoch abgeschlagen wurden. Daraufhin gab es im Rat eine Spaltung. Die Erde und GOWA forderten weitere BGs des Mars dazu auf, restriktive Vereinbarungen zu unterzeichnen, die nur der Erde Vorteile brachten. Weitere Embargos wurden verhängt, diesmal gegen größere BGs. Einige schlossen sich angesichts ihrer katastrophalen Finanzlage und eines drohenden Bankrotts zusammen. Selbst die größten BGs, die davon nicht selbst betroffen waren, merkten, dass das System unabhängiger Familien dem Untergang geweiht war. Und dass angesichts des äußeren Drucks die Solidarität bald nicht mehr freiwillige Sache, sondern Voraussetzung des Überlebens sein würde.
Beim ersten Mal wurde meine Bewerbung für ein Praktikum beim Syndikat abgelehnt. Ich wechselte von Durrey zurück zur Mars-Universität Sinai und belegte dort weitere Seminare in Staatslehre. Die Fakultät war inzwischen verkleinert worden. Sechs Monate später bewarb ich mich erneut und wurde wieder abgelehnt.
Bithras Majumdar, Rechtsvertreter der BG Majumdar und mein Onkel dritten Grades, wurde gegen Ende des Jahres 2172 – des Marsjahres 53 – zur Erde zitiert, um vor dem Senat der Vereinigten Staaten der Westlichen Hemisphäre eine persönliche Stellungnahme abzugeben. Man hätte Bithras’ Rede auch fernübertragen und uns auf diese Weise eine Menge Geld ersparen können. Schließlich sprachen Politiker und Rechtsvertreter sowieso fast nie spontan. Jeder Auftritt in der Öffentlichkeit wurde vorher doch gründlich einstudiert. Aber die Hochnäsigkeit der Erde übertraf alles, was wir gewohnt waren.
GOWA – die Große Ost-West-Allianz – hatte sich inzwischen zur
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