Heimat Mars: Roman (German Edition)
einen Staat mit einem anderen Regierungssystem ausweichen kann – ist das wirklich Freiheit?«
»In der globalen Kultur der Erde sorgt der Informationsfluss dafür, dass sogar große Regierungen schnell auf die Wünsche von Individuen reagieren können. Zwischen den verschiedenen Organisationsebenen gibt es eine ständige und sofortige Kommunikation.«
»Diese Sicht halte ich für ein bisschen zu optimistisch«, wandte ich ein.
»Trotzdem, Volksentscheide gehen sehr schnell über die Bühne. Der Informationsfluss regt die Menschen dazu an, sich zu informieren und die Probleme zu diskutieren. Jede Ebene menschlicher Organisation agiert wie ein Sachbearbeiter mit umfassenden Kompetenzen, der die Weltpolitik beurteilt und darauf Einfluss nimmt. Unterstützt wird das durch die Erweiterung der menschlichen Fähigkeiten, die bald ein ebenso wichtiger Faktor sein wird wie die Denker, außerdem durch die Verbindung von Menschen mit noch kompetenteren Denkern. Der Informationsfluss schaltet die Individuen sozusagen parallel. Mit der Zeit könnten menschliche Gruppen und Denker sogar so weit miteinander verschmelzen, dass man sie gar nicht mehr voneinander unterscheiden kann.
Allerdings kann ich von einer Gesellschaft, die an diesem Punkt angekommen ist, noch kein Modell erstellen. Das überschreitet meine Fähigkeiten«, schloss Alice.
»Gruppendenken«, bemerkte ich ironisch. »Ich möchte nicht dort sein, wenn es soweit ist.«
»Es wäre faszinierend«, stellte Alice fest. »Man hätte dann ja immer noch die Wahl, die Einzelsituation eines Individuums zu simulieren.«
»Aber dann wäre man einsam«, sagte ich und hatte plötzlich einen Kloss im Hals. Seltsamerweise sehnte ich mich nach irgendeiner Verbindlichkeit, die Einverständnis und Sicherheit umfasste – sehnte mich danach, Teil einer umfassenderen Wahrheit, einer größeren gemeinsamen Anstrengung zu sein. Meine marsianische Erziehung, mein jugendliches Alter und mein Charakter hatten dafür gesorgt, dass ich isoliert war und ständig – wenn auch nicht schlimmen – Kummer hatte. Ich hatte nicht das Gefühl, irgendwo richtig dazuzugehören. Ich verspürte den starken Wunsch, Teil einer edlen und gerechten Sache zu sein und Menschen – Freunde – um mich zu haben, die mich verstanden. Das vertraute ich Alice auch an, als sei sie nicht meine Prüferin, sondern Beichtmutter.
»Du verstehst das Bedürfnis«, sagte Alice. »Möglicherweise verstehst du es besser als Bithras, weil du jünger bist.«
Ich zuckte zusammen. »Möchtest du denn mit Herz und Seele Teil einer größeren, einer bedeutenden Sache sein?«
»Nein«, antwortete Alice. »Für mich ist das nur ein Kuriosum.«
Ich lachte, um meine Verlegenheit und Anspannung zu überwinden. »Aber für die Menschen der Erde …«
»Der Wunsch, Teil von etwas Größerem zu sein, ist eine historische Kraft. Einige sehen das, manche kämpfen dagegen an, viele betrachten es als unvermeidlich.«
»Das kann einem Angst machen.«
»Dem Mars kann es in seiner gegenwärtigen Lage große Angst machen«, bestätigte Alice. »Die Bündnisse der Erde mögen unsere ›Macken‹, wie du’s nennst, ganz und gar nicht. Sie wünschen sich vernünftige und effiziente Partner in einem wirtschaftlich vereinten Sonnensystem – Partner, deren Gesellschaft ebenso stabil ist wie ihre.«
»Also setzen sie uns unter Druck, weil der Mars ein Planet ist, der aus der Art schlägt … Glaubst du nicht, dass die Marsianer gerne Teil von etwas Größerem wären?«
»Viele Marsianer legen großen Wert auf ihre Privatsphäre und ihre Individualität«, sagte Alice.
»Philosophie der Pionierzeit?«, fragte ich.
»Der Mars ist auffallend urbanisiert. Die Individuen sind auf dem ganzen Planeten in wirtschaftliche Einheiten eingebunden. Das hat nicht mehr viel mit einer Grenzsituation gemein, in der die Familien oder einzelne Menschen voneinander isoliert waren.«
»Hast du mit Bithras über die Ziele der Erde gesprochen?«
»Das soll er dir sagen.«
»Also gut«, sagte ich. »Dann erzähle ich dir, was ich davon halte, einverstanden?«
Alice nickte.
»Ich glaube, die Erde verfolgt irgendeinen größeren Plan, und dabei steht ihr jedwede Autonomie irgendeines Teils des Dreierbundes im Weg. Letztendlich wollen sie den Mars bändigen und kontrollieren, so wie sie es schon mit dem Mond gemacht haben. Und dann werden sie sich die Menschen auf dem Gürtel, auf den Asteroiden und in den Raumstationen vornehmen … Sie werden uns alle
Weitere Kostenlose Bücher