Heimat Mars: Roman (German Edition)
unter ihre Knute bringen, bis sie mit ihrer zentralen Autorität alle Ressourcen im Sonnensystem kontrollieren.«
»Das beurteile ich ähnlich«, sagte Alice. »Hast du viel Zeit in einem simulierten Erdmilieu verbracht?«
»Nein«, gestand ich.
»Man kann dabei viel lernen. Vielleicht möchtest du einmal in die simulierte Persönlichkeit einer Erdbewohnerin schlüpfen, damit du dir einiges besser vorstellen kannst?«
»Mir liegt eigentlich gar nicht so viel an … daran, mit Hilfe der Technik so nah auf Tuchfühlung zu gehen«, wandte ich ein.
»Darf ich dir sagen, dass auch dies ganz typisch für Marsianer ist? Man muss seine Kontrahenten sehr gut kennen, wenn man erfolgreich verhandeln will. Ich garantiere dir, dass sie die Einstellungen der Marsianer in allen Einzelheiten untersucht haben.«
»Wenn sie in unsere Haut schlüpfen, denken sie dann nicht auch wie wir?«
»Es ist ein merkwürdiges Missverständnis, wenn man glaubt, dass Verständnis einer anderen Denkweise mit Übereinstimmung gleichzusetzen ist. Verstehen heißt nicht, dass man sich die andere Denkweise zu eigen macht oder sie teilt.«
»Einverstanden«, sagte ich. »Was geschieht also, wenn sich die ganze Erde zusammenschließt und wir es mit kollektivem Denken zu tun haben? Warum sollte das ihr Bedürfnis nach Ressourcen verstärken?«
»Weil die Ziele eines fest integrierten kollektiven Denkens fast immer höher gesteckt sind als die Ziele in einer Gesellschaft der Vielfalt.«
»Niemand gibt sich je zufrieden mit dem, was er hat?«
»Nach menschlicher Erfahrung nicht. Nicht auf der Ebene von Regierungen, Nationen oder Planeten.«
Ich schüttelte traurig den Kopf. »Und wie steht’s mit dir?«, fragte ich. »Du bist stärker und hast ein umfassenderes integriertes Wissen als ich. Hast du auch mehr Ehrgeiz?«
»Ich wurde so konzipiert, dass ich menschlichen Bedürfnissen diene, und damit bin ich zufrieden.«
»Aber nach dem Gesetz bist du eine Bürgerin und hast die gleichen Rechte wie ich. Das müsste ja auch das Recht einschließen, mehr zu wollen.«
»Gleichheit nach dem Gesetz bedeutet nicht Gleichheit des Charakters.«
Einen Augenblick lang dachte ich darüber nach. Alices Bild lächelte. »Ich habe unser Gespräch sehr genossen, Casseia.«
»Danke«, sagte ich. Plötzlich fiel mir der Anlass dieser Begegnung wieder ein. Das ernüchterte mich. »Es hat mir … großen Spaß gemacht.«
»Das nehme ich als Kompliment.«
Es juckte mich, die naheliegende Frage zu stellen.
»Ich werde meine Beurteilung an Bithras weiterleiten.«
»Danke«, sagte ich unterwürfig.
»Natürlich wirst du auch noch Einzelgespräche mit menschlichen Gesprächspartnern führen.«
»Natürlich.«
»Bithras macht das normalerweise nicht selbst.«
Das hatte ich bereits gehört und fand es merkwürdig.
»Er setzt wirklich großes Vertrauen in seine Mitarbeiter und in mich«, sagte Alice, die immer noch lächelte.
Und wenig Vertrauen in sein eigenes Urteilsvermögen? »Oh.«
»Wir unterhalten uns später noch einmal«, versprach sie. Ihr Bild erstarrte. Peck, der Prüfungsleiter, öffnete die Bürotür und trat ein. Ich verabschiedete mich.
»Wie hab ich abgeschnitten?«, fragte ich Peck, als er mich hinausbegleitete.
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, antwortete er.
Sechs Tage lang wartete ich ängstlich auf den Bescheid. Ich weiß noch, dass ich mehr als gereizt, dass ich unerträglich war. Mein Vater ärgerte sich über mich, meine Mutter verteidigte mich ihm gegenüber. Mein Bruder Stan ging mir einfach aus dem Weg. Inzwischen bevölkerten noch mehr Verwandte unsere Unterkünfte: die Familie meiner Tante und ihre vier heranwachsenden Kinder. Ich zog mich, soweit möglich, zurück. Mir war nicht klar, ob ich ein Paria war oder eine Raupe, die sich gerade verpuppte, um zum Schmetterling zu werden.
Einmal sprach ich mit Diane, die inzwischen Assistentin an der Mars-Universität Durrey war, allerdings erzählte ich ihr nichts von der Prüfung. Ich war ein bisschen abergläubisch und hatte das Gefühl, die Unterstützung von Freunden und Verwandten könne die Aufmerksamkeit böser Gottheiten auf mich lenken. Von Gottheiten, die nach jungen Frauen mit allzu viel Glück Ausschau hielten und ihnen Nackenschläge verpassten, damit sie nicht zu übermütig wurden.
Am sechsten Tag meldete sich mein Kom mit der Tonfolge, mit der hochoffizielle Mitteilungen angekündigt wurden. Ich zog mich von der Eingangshalle vor unseren Familienunterkünften
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