Heimat Mars: Roman (German Edition)
Grips hat. Wir schätzen unsere Gegner. Sie spornen uns zu größeren Leistungen an. Wenn wir eine Niederlage einstecken müssen, wissen wir, dass es weitere Kämpfe auszufechten gilt. Kämpfe ohne Blutvergießen, Kämpfe des Intellekts. Und die können ganz unterschiedlich ausgehen und bedeuten nicht unbedingt nur Niederlage oder Sieg.«
»Und wenn ihr Streit mit dem Mars habt?«, hakte ich nach und verschanzte mich hinter einer Maske provinzieller Ängstlichkeit. »Wenn wir Meinungsverschiedenheiten haben?«
»Wir sind Gegner, die man fürchten muss«, räumte Paul ein. Renna schien über diese Antwort nicht gerade glücklich zu sein.
»Was allen nützt, nützt auch der Erde«, sagte sie und berührte meine Hand. »Auf der Erde gibt es zwar große Vielfalt, so viele Möglichkeiten für Wachstum und Wandel, so viel Streit, wie Sie es nennen. Aber wenn man die Politik verfolgt, die Reaktionen der Völker – egal, wo sie leben –, dann herrscht in den wesentlichen Zielen erstaunliche Übereinstimmung.«
Ziele. Nachtigall, ich hör dich … Alice, du hast ja so recht!
»Und was für Ziele sind das?«
»Na ja«, antwortete Renna, »wir können uns Disziplinlosigkeit nicht leisten. So freundlich ist das Universum nicht. Schwächen und schwache Glieder …«
»… wie der Mars«, warf ich ein.
Rennas Augen wurden schmal. Vielleicht trug ich zu dick auf. »Wir müssen im Interesse der gemeinsamen Ziele aller von Menschen besiedelten Welten zusammenarbeiten.«
»Und wogegen sollen wir uns verbünden?«
»Nicht gegen etwas, sondern für etwas. Für den nächsten Vorstoß – die Besiedelung der Sterne. Es gibt genügend Welten für alle, die anderer Meinung sind. Dort können sie große Experimente durchführen, große Schritte tun … Aber das werden wir nicht erreichen, wenn wir uns jetzt aufspalten und es an Disziplin fehlen lassen.«
»Und was ist, wenn unsere Ziele zufällig nicht übereinstimmen?«, wollte ich wissen.
»Alle Dinge sind dem Wandel unterworfen«, antwortete Renna philosophisch.
»Und wessen Ziele sollten sich wandeln?«
»Das ist ja gerade Gegenstand eines solchen Diskussionsprozesses.«
»Und wenn die Diskussion nichts klärt? Eine Diskussion kann sich bis zum Sankt Nimmerleinstag hinziehen«, sagte ich.
»Das stimmt. Man hat nicht immer den Luxus unbegrenzter Zeit.«
»Und wenn die Diskussion abgebrochen werden muss«, machte ich weiter, »wer bricht sie dann ab?«
Renna musterte mich scharf. Das Gespräch machte ihr Spaß. Aber ich musste mich zwangsläufig fragen, ob diese Leute – trotz ihrer offensichtlichen Weitläufigkeit, trotz ihres Aufenthaltes auf dem Mars – überhaupt verstanden, wie Marsianer dachten.
»Wenn eine Gesellschaft, um es mit Orianna zu formulieren, keinem ›guten Trend‹ folgt, wenn sie ihre Verantwortlichkeiten nicht auf sich nimmt, dann muss man zu anderen Mitteln greifen.«
»Gewalt?«, fragte ich.
»Renna diskutiert sehr gern«, vertraute Paul Allen an. »Auf diesem Schiff ist es ihr bisher zu ruhig, zu höflich zugegangen.«
»Wenn es Punkte gibt, in denen Mars und Erde sich nicht einigen können, bleibt immer noch Raum für neue Entwicklungen und Diskussionen«, schloss Renna und blickte mich wohlwollend und erwartungsvoll an. »Gewalt ist eine alte Gewohnheit, von der ich nichts halte.« Offensichtlich wollte sie mich zu einer neuerlichen Entgegnung provozieren. Aber irgend etwas hatte mich tief getroffen, ich wollte nicht darauf eingehen. Ich lächelte kühl, verneigte mich und klopfte auf meinen Teller, damit der Roboter abräumte.
»Manchmal übersehen wir in unserer Begeisterung, dass andere empfindlich reagieren könnten«, sagte Paul vorsichtig.
»Das macht doch nichts«, erwiderte Allen. »Wir setzen die Diskussion später fort.«
Bithras hatte viel um die Ohren. Er verhielt sich mustergültig. Er wirkte eher wie ein besorgter Onkel als wie ein Chef. Manchmal war er der Lehrer, manchmal ein Studienkollege, der gemeinsam mit Allen und mir daran arbeitete, die Rätsel der Erde zu entschlüsseln. Nie verhielt er sich wie das unantastbare Ungeheuer, das meine Mutter beschrieben hatte.
Seine Verwandlung vollzog sich erst, als wir schon mehr als fünf Monate unterwegs waren. Und sie kam so plötzlich, dass sie mich völlig überrumpelte. Bithras bestellte mich zu einer Besprechung in seine Kabine. Inzwischen trug er wieder gern Tenniskleidung. Als ich eintrat, saß er in seinem weißen Baumwollhemd und Shorts da und hatte die Beine an die
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