Heimat Mensch - Was uns alle verbindet
amerikanischer Sprachwissenschaftler, hatte in den 1930er Jahren die Hopi untersucht, eine Indianergruppe in den USA. Sein Ergebnis ließ die Fachwelt aufhorchen: Whorf behauptete, die Sprache dieser Indianer habe keine Worte für das, was wir »Zeit« nennen. Sie kenne auch keine grammatischen Formen, Konstruktionen oder Ausdrücke, die sich direkt auf Zeit beziehen, das gelte ebenso für die Vergangenheit wie für die Zukunft. Während wir Zeit durch Worte des Raumes ausdrücken, »nach kurzer Zeit«, »eine Zeitlang«, stellten die Hopi den wiederkehrenden Aspekt heraus. Statt »in der Nacht« sagten sie »wenn es Nacht ist«. Die Hopi haben nach Whorf auch keine Ausdrücke für Dauer. Als Zusammenfassung seiner Untersuchungen formulierte Whorf 1936 einen sehr folgenreichen Satz: »Die Sprache der Hopi beinhaltet keinen Bezug zu ›Zeit‹, weder ausdrücklich noch implizit.«
Was war an dieser Aussage so schwerwiegend, da sie doch nur etwas über eine einzige von Tausenden Kulturen dieser Welt sagt? Weil der gut dokumentierte Fall einer Kultur, der ein Merkmal fehlt, reicht, um zu zeigen, dass dieses Merkmal nicht universal sein kann. Whorf schloss von der Sprache auf das Denken der Hopi. Wenn sie keine Zeitwörter in ihrer Sprache haben, haben sie auch kein Zeitkonzept. Später wurde er etwas vorsichtiger und meinte nun, ihre Zeitvorstellungen seien »sehr anders« als die westlichen. Die Hopi hätten eine »psychologische Zeitvorstellung«. Zeit werde bei ihnen nicht objektiviert, nicht in Einheiten gedacht, die man ansammeln kann. Die Hopi würden nicht von »zehn Tagen« sprechen so wie von »zehn Menschen«. Den Plural und die Aufzählung gebe es bei ihnen nur für Dinge, die eine objektive Menge bilden können. Zeit existiere für sie aber nicht in solchen physikalischen Einheiten. Statt zu sagen »Sie blieben zehn Tage«, sagten sie deshalb »Sie gingen am zehnten Tag«.
Nach Whorf haben die Hopi jedenfalls keine Vorstellung in der Art, dass die Zeit fließt und ein Kontinuum bildet. Er leitete aus seinen Ergebnissen ab, dass die Hopi eine völlig andere Vorstellung von Zeit hätten als andere Kulturen. Whorf war ein Relativist, und das westliche Zeitkonzept war damit vom Sockel der Allgemeingültigkeit geholt, es war ein besonderes unter vielen anderen Konzepten der Zeit. Was für eine befreiende Vorstellung: Anders als wir im Westen interessieren sich die Hopi nicht für exakte Abfolgen im Leben. Datierung und Chronologie sind ihnen egal. Sie brauchen keine Kalender! Das passte gut zusammen mit Informationen über nichtindustrielle Kulturen, die sich nach den Kreisläufen der Natur richten statt nach Uhren. Ihnen reichen die Zyklen von Tag und Nacht, die Mondphasen und der Wechsel der Jahreszeiten.
Tatsächlich leben viele Kulturen in einer solchen »Ereigniszeit«. Wenn sich ein Bauer in Burundi in Afrika mit seinem Freund verabredet, nennt er keine Uhrzeit. Er sagt: »Wir treffen uns, wenn die Kühe trinken.« Beide wissen, dass das etwa mittags ist und dass die Kühe darüber entscheiden, wann genau sie sich treffen. Es gilt die ökologische Zeit statt der Uhrzeit. Robert Lauer hat die Nuer erforscht, die als Viehhirten im trockenen Sudan in Afrika leben. Der Nuer-Kalender richtet sich nach den Jahreszeiten der Natur und ihren eigenen Aktivitäten. Im Monat Kur beispielsweise errichten sie Fischsperren im Fluss und Lager bei den Viehweiden. Wann ist der Monat Kur ? Kur ist, wenn Dämme und Lager gebaut werden!
Das erinnert an den Witz des amerikanischen Blitztouristen in Europa. Jemand fragt ihn, ob er weiß, wo er gerade ist. »Ja, klar, heute ist Dienstag, also muss das hier Belgien sein.« Was würde ihm der traditionell aufgewachsene Nuer, der gerade aus dem Sudan in Brüssel angekommen ist und unserem Amerikaner Kunsthandwerk verkauft, auf die Frage antworten, welcher Tag gerade sei? »Ich bin hier in Belgien, also ist heute Dienstag!« Diese Ereigniszeit-Kulturen achten auf die Uhr der Natur. Die Hopi, die Leute in Burundi, die Nuer und viele andere Kulturen können gelassener sein als wir. Entschleunigung ist angesagt.
Ethno-Mythen
Für viele Menschen im Westen ist das eine schöne Vorstellung, aber ist das auch die ganze Wahrheit? Gibt es bei ihnen neben den anderen Zeitkonzepten nicht auch den gerichteten Zeitstrahl? Haben sie nicht auch manchmal Zeitdruck? Westliche Träume werden immer wieder gern auf andere Völker projiziert. So werden Indianer gerne als »Ökoheilige« verehrt, die
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