Heimat Mensch - Was uns alle verbindet
Aufzeichnungen über Zeitdaten machen, ja regelrechte Chronologien. Sie haben einen Sonnenkalender, einen Knotenkalender und Kalenderstöcke aus Holz. Sie benennen exakte Zeitpunkte für Zeremonien und erfassen vergangene Zeiten mit Strichen auf den Wänden ihrer Behausungen. Das alles heißt nicht, dass die Hopi nun mit Zeit genauso umgehen wie wir. Sie benutzen Kalender nicht so umfassend, wie wir das tun. Uhren spielen bei ihnen eine geringe Rolle. Nach diesen Ergebnissen ist aber klar, dass die Hopi nicht in einer ganz anderen Zeit-Welt leben. Eine heilige Kuh der Linguistik war als Mythos entlarvt.
Warum hat Whorf das alles nicht gesehen? Wir wissen es nicht. Hat er es nicht wahrnehmen wollen? Das mag ein Grund sein, aber sicher nicht der einzige. Whorf baute seine weitreichenden Schlüsse auf unvollständigen Daten auf – und er hatte starke mystische Interessen. Viele seiner Arbeiten erschienen in einer theosophischen Zeitschrift, die in der indischen Stadt Madras veröffentlicht wird. Für ihn war die Erforschung von Sprache ein Weg des Yoga. Vielleicht wollte er seine Ergebnisse auch einfach sehr bedeutend aussehen lassen. Die Erforschung einer indianischen Sprache lässt sich besser rechtfertigen, wenn sie von philosophischer Tragweite ist und nicht nur eine Sammlung von Daten.
Manche seiner Beobachtungen waren durchaus richtig, aber seine Schlüsse auf eine unüberbrückbare Unterschiedlichkeit der Kulturen waren vollkommen überzogen. So stimmt es, dass die Hopi manche Zeiteinheiten nicht im Plural kennen. Aber eben nur manche. Und es gibt weitere Gründe für Whorfs Irrtum. Einige der Techniken der Zeitmessung wurden von den Hopi bereits zu Whorfs Zeit kaum mehr verwendet. Dazu kommt, dass manches davon mit Ritualen und Geheimwissen verknüpft ist. Die Hopi wollten dem neugierigen Ethnologen einfach nicht alles offenbaren.
Wie so oft wurden Whorfs Thesen in der anschließenden Diskussion weit radikaler wiedergegeben, als er sie selbst formuliert hatte. Malotki hingegen erhielt für seine detaillierte empirische Widerlegung dieses Mythos kaum Anerkennung. Seine Arbeit ist im Unterschied zu Whorfs Thesen kaum bekannt. In der Linguistik hatte man die Whorf’schen Thesen zwar auch ohne Malotkis Mammutwerk in den 1980ern still begraben. Dennoch geistern sie unbeirrt weiter durch Einführungsbücher und Proseminare. So kann Wissenschaft sein.
Die Vielfalt von Zeitkonzepten ist lange Zeit überschätzt worden. Wir wissen heute, dass Zeit in allen Kulturen aufgeteilt wird in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Auch wenn Zeit unterschiedlich bewertet wird, spiegelt sich Zeitbewusstsein in allen Dimensionen des Lebens: im Lebenszyklus, in der Wirtschaft und in den Mythen. In jeder Kultur auf diesem Planeten dient der Lauf der Sonne als Basis der Berechnung langer Zeiträume. Für landwirtschaftlich geprägte Kulturen hat der Jahreszyklus absolut zentrale Bedeutung. Der Jahreslauf bestimmt auch das soziale Leben, etwa die Riten und Feste. Deshalb bleiben Ethnologen mindestens ein Jahr »im Feld«, um alles Wichtige wenigstens ein Mal mitzuerleben.
Überall werden Tag und Nacht deutlich voneinander unterschieden. Fast in allen Kulturen gilt die Nacht als Schattenreich, als eine Art Gegenwelt. Sie bildet die Umkehr des Tages, eine Zeit, in der soziale Regeln weniger stark gelten. In der Nacht finden die verbotenen Spiele, der heimliche Sex und die Prostitution statt. Nachts verliert man sein Gesicht nicht so leicht. Die Nacht ist die Zeit der Subversion, der am Tag verbotenen Opposition und der Umkehrriten. Die Nacht gilt als bedrohlich. Und sie ist in allen Kulturen auch tatsächlich gefährlicher als der Tag: Frauen, Kinder, Alte und Fremde bleiben besser zu Hause. Alles das haben die Kulturen wahrscheinlich unabhängig voneinander selbst entdeckt.
Trotz dieser gleichen Muster gibt es frappante Unterschiede. In vielen Kulturen pflegt man nicht wie bei uns seinen Achtstundenschlaf in der Nacht. In Siesta-Kulturen wird nachts weniger und dafür am Tag einmal richtig geschlafen. Indonesien ist eher eine »Nickerchenkultur«, wo man nachts wenig schläft und am Tag öfter mal kurz eindöst.
Universal sind dagegen die Vorstellungen zu kurzen Zeiten im Alltagsleben. Sämtliche Sprachen verfügen über Zeiteinheiten und ermöglichen zumindest implizit die Angabe der Zeitdauer. Anna Wierzbicka, eine der aktivsten Linguisten, die weltweite Vergleiche anstellen, benennt acht Zeitkonzepte, die sich in allen
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