Heimat Mensch - Was uns alle verbindet
Gummizeit verbreitet, besonders bei privaten Verabredungen. Wird das Gummi bis zum Reißen gespannt, gibt es auch einmal mehrstündige Verspätungen. Auf Einladungen zu Hochzeitsempfängen, zu denen meistens mehrere Hundert Leute erscheinen, steht die Zeit des Beginns. Tatsächlich fangen sie häufig später an, und die Gäste kommen zum Teil noch sehr viel später. Das ist nicht unhöflich. Es kommt aber auch vor, dass ein Hochzeitsempfang früher beginnt. So etwas stört hier niemanden. Jedenfalls beklagt sich keiner. Wenn man sich mit Freunden oder Verwandten trifft und es nicht unbedingt erforderlich ist, pünktlich zu sein, kann man ruhig später kommen. Dafür kann man aber auch früher erscheinen, wenn man jemanden besucht. Sind die Besuchten noch nicht da, macht einem irgendjemand auf. Auf Sulawesi steht im Empfangszimmer oft ein großes Sofa oder sogar ein Bett. Wenn ich dort bin, mache ich erst mal ein Nickerchen, bis die Leute des Hauses eintreffen. Eine wunderbare Sitte, finde ich.
Es gibt aber klare Ausnahmen von der Gummizeit. Dabei ist meist Status, Macht oder Prestige im Spiel. Ranghohe Personen erwarten von Ausländern absolute Pünktlichkeit. Das ist eine Frage des Respekts. Die Indonesier wissen auch vom Pünktlichkeitsfetischismus der modernen Welt. Wenn Geschäftsleute und hochrangige Personen einladen, steht auf der Einladungskarte sogar oft: »Kommen Sie bitte eine halbe Stunde früher!« Man soll überpünktlich sein, auch wenn die Veranstaltung viel später beginnt, nach der Devise: »Spute dich, um zu warten.«
Zeitlose Indianer?
Verschiedene Kulturen haben offenbar verschiedene Konzepte von Zeit. Zeit ist grenzenlos, kontinuierlich und eigentlich unteilbar. Dennoch wird sie ganz verschieden erfahren. Einige Gesellschaften halten Zeit für linear, andere für kreisförmig oder für eine statische Größe. Die Aborigines Australiens haben mit ihrer »Traumzeit« eine Vorstellung, die weder linear noch zyklisch ist. Sie glauben, dass sich die Vergangenheit »wiederholen« und »vergegenwärtigen« kann. Einige Kulturen halten die Zeit für einteilbar. In manchen Gesellschaften, zum Beispiel bei uns, denken die Menschen, dass man Zeit sparen, verlieren oder vergeuden könne. Das erscheint anderen Kulturen absurd: »Wie kann man denn Zeit verschwenden? Wenn man irgendetwas nicht macht, tut man doch dafür etwas anderes.« Die Indonesier zeigen uns, dass es innerhalb einer Gesellschaft verschiedene Zeitideale nebeneinander geben kann. Ein Konzept der Zeit ist also weit mehr als die herrschende Vorstellung über Pünktlichkeit. So wie der Raum ist die Zeit eine elementare Grunddimension des Lebens. Sie bestimmt das Alltagsleben von Menschen, egal in welcher Kultur sie leben.
Zeitvorstellungen sind ein gern benutztes Beispiel für kulturelle Vielfalt und ihre Unterschiedlichkeit ein häufiges Argument gegen Universalität. Die strittige Frage ist, ob es trotz der verschiedenen Zeitkonzepte in allen Kulturen auch die Vorstellung einer gerichteten Zeit gibt. Es geht um das Konzept der Zeit als horizontaler Pfeil. Ein Zeitstrahl kommt aus der Vergangenheit, geht durch die Gegenwart und zielt in die Zukunft. Diese Vorstellung des gerichteten Pfeils ist bei uns eng mit dem Konzept des Fortschritts verknüpft. Die Ethnologen haben deshalb lange bezweifelt, dass es gerichtete Zeit in allen Kulturen gibt.
In vielen asiatischen Gesellschaften denkt man sich die Gegenwart als untrennbar mit der Vergangenheit verknüpft. In diesen Kulturen macht man Dinge eher gleichzeitig, als die Aufgaben nacheinander zu erledigen. In indonesischen Büros spielen die Angestellten neben der eigentlichen Arbeit auch Glücksspiel oder telefonieren ausgiebig mit der Ehefrau. In großen Büros halten manche auch mal ein Nickerchen. Während der Dienstzeit wird vor dem Amtsgebäude Badminton gespielt. Dafür bleiben viele aber auch länger im Büro oder empfangen Kunden bei sich zu Hause. Die Entdeckung solcher vertikaler Zeitkulturen hat es bereits bis ins Fachvokabular geschafft. Wissenschaftler sprechen von »polychronen« im Gegensatz zu »monochronen« Kulturen.
Andererseits denkt sich die Mehrheit der Menschen die Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und erlebt sie als Dauer. Jede bekannte Kultur thematisiert das Sonnenjahr. Und das haben wohl alle Menschen aller Kulturen schon immer getan. Manche Ethnologen bezweifeln die Universalität des Zeitpfeils dennoch bis heute. Warum?
Benjamin Lee Whorf, ein
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