Heimat Mensch - Was uns alle verbindet
Gastfamilie wird uns zum Flughafen bringen. Das ist praktisch, weil wir sehr viel Gepäck haben. Für ein horrendes Porto wurde zwar bereits eine riesige Aluminiumkiste nach Deutschland expediert, aber es bleibt viel. All die Bücher, Notizen und Disketten, die kleinen Holzmodelle traditioneller Häuser und andere Mitbringsel müssen transportiert werden. Immer mal wieder fragen wir unsere Familie, wann wir denn wohl am Tag unseres Fluges aufbrechen werden. Wir haken auch nach, wer von der Familie uns fahren wird. Wir wollen zwar keinen Stress verbreiten, aber wir denken an Verkehrsstaus, Straßensperren, immer mögliche Achsenbrüche und Überschwemmungen durch Monsunregen.
Alle unsere Fragen gehen ins Leere. »Wir machen das schon. Keine Sorge. Ist noch viel Zeit.« So geht es über mehrere Tage. Da ist Vertrauen gefordert. In der Nacht vor dem Abfahrtstag steht mit einem Mal ein fescher Jeep vor der Tür. Wir fahren schließlich im Morgengrauen ab. Es ist eine ruhige Fahrt in der noch frischen Luft. Das haben wir immer wieder erlebt: Wenn es darauf ankommt, können Indonesier sehr pünktlich sein. Aber sie lassen keine unnötige Hektik aufkommen. Am Ende sind wir überpünktlich am Flughafen, drei statt zwei Stunden vor dem Abflug. Alle sind traurig wegen des Abschieds und haben überhaupt keine Lust zum Reden. Wir wissen nicht recht, wie wir die endlose Zeit totschlagen sollen. Den Flughafen kennen wir schon in- und auswendig. Irgendwann haben wir im drei mal drei Meter großen »Duty Free Shop« wirklich alles gesehen. Wir kaufen lauwarme Cola und trinken übersüßten Kaffee. Dann endlich gehen wir zum Einchecken und in die Kontrollen. Kurzes Winken, und wir sind fort.
Beschleunigung – raus aus der »Gummizeit«
Als wir wieder zurück in Köln sind, kommt uns alles hier irrsinnig schnell vor. Die Menschen gehen schnell, handeln schnell und reden schnell. Maria und ich rufen unsere besten Freunde an. Die sagen: »Toll, dass ihr wieder da seid, aber wir sind gerade auf dem Sprung.« In drei Tagen hätten sie Zeit, damit wir uns sehen können. »Lasst uns aber vorher noch telefonieren, wann genau wir uns treffen!« In Indonesien wären wir einfach unangekündigt hingegangen und hätten gewartet, bis jemand Zeit hat, auch wenn das zwei Stunden dauert. Andere Freunde treffen wir zufällig in der Nähe am Brüsseler Platz. Sie fragen nach unseren Erlebnissen und erwarten knappe Antworten. Tempo, Tempo. Es heißt »Na, wie war’s?« oder, noch schlimmer, »War’s gut?« mit der Erwartung, dass wir mit »Ja« oder »Nein« antworten. Unglaublich. Wir waren ein Jahr in Indonesien und haben dort mehr erlebt als in fünf Jahren vorher in Köln. Für uns ist das deutsche Tempo Kulturschock pur. Wir brauchen ein gutes halbes Jahr, um uns an den rasanten Takt von Köln zu gewöhnen.
Gleich am ersten Tag muss ich in die Apotheke, weil ich Kopfschmerzen habe, vom Jetlag nach 15 Stunden Flug und von der ungewohnten Hektik. Durch das Schaufenster sehe ich die Apothekerin im Gespräch mit einer Kundin. Die hat ihre Sachen schon eingepackt, aber sie reden wohl noch ein bisschen. Als ich eintrete und der Klingelton erschallt, bricht die Apothekerin das Gespräch sofort ab. »Was kann ich für Sie tun?« Die Kundin ist schon draußen. Ich bin völlig geschockt und stottere, was sonst nicht meine Art ist. In Indonesien wäre die Situation ganz anders. Dort stehen mindestens fünf Kunden in der Apotheke, wenn ich sie betrete. Sie sind meistens schon eine ganze Weile da, es gibt aber ebenso viele Apothekerinnen. Ich gehe hinein und schaue mir erst einmal in aller Ruhe die Regale an. Nach mehreren Minuten begrüße ich eine Apothekerin mit den Worten: »Guten Mittag, was macht die Familie …? Nach zehn Minuten Plaudern fragt sie mich dann: »Wollten Sie eigentlich etwas Bestimmtes?«
Erst später, als sich die Kopfschmerzen gelegt haben, erinnere mich, dass ich auch in Indonesien Zeitdruck und Hektik erlebt habe. Kaum bin ich wieder in Deutschland, schon fange ich an, Indonesien zu idealisieren! Umgekehrt läuft auch in Köln nicht alles schnell. Kulturen sind gleich und verschieden zugleich. Auch in unserer Kultur gibt es ganz unterschiedliche Umgangsweisen mit Zeit, sogar in Unternehmen. Mein Kollege und Freund Michael Schönhuth interessiert sich wie ich dafür, wie verschiedene Kulturen der Zeit Sinn und Struktur geben. Als erfahrener Spezialist für Organisationsethnologie weiß er, dass sich auch in unserer
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