Heimat Mensch - Was uns alle verbindet
und fangen ihn wieder auf. Der nächste Schritt ist die Beschneidung. Davor werden ihm und den anderen Novizen geheime Rituale vorgeführt. Nach der schmerzhaften Prozedur tanzen Frauen und Mädchen für sie. Als Zeichen der neuen Würde bekommt Romo am nächsten Tag ein Schwirrholz. Er wird es ab jetzt immer dabeihaben im Outback .
Romo weiß, dass die nächsten Tage sehr anstrengend werden. Er und seine Freunde müssen dem Wohnlager fernbleiben. Draußen im Busch erhalten sie Lektionen. Sie dürfen kaum etwas essen und lernen eine Geheimsprache. Nach sechs Wochen kommt der nächste Ritus, der Romo in schlimmer Erinnerung bleiben wird. In einer blutigen Zeremonie wird ihm nun die Harnröhre eingeschnitten, eine Radikalkur, die Gehorsam verbürgt; sie manifestiert die Autorität der älteren Männer. Nach weiteren sechs Wochen kommt die »Räucherung«, ein Reinigungsakt. Erst danach sieht Romo endlich wieder Frauen und Kinder und auch seine Familie. Er ist froh, das hier hinter sich zu haben. Jetzt ist er ein Erwachsener, und es gibt eine erste Feier mit Tänzen.
Genau besehen ist er noch nicht ganz erwachsen. Er muss noch die zweite Reihe an Initiationsritualen hinter sich bringen. Die sind kaum weniger hart und können bis zu zwei Monate dauern. Das kommt aber erst in einigen Jahren auf ihn zu. Dann wird er weitere komplizierte Mythen kennenlernen und darf zum ersten Mal die heiligen Figuren ansehen, in denen die Totem-Ahnen wohnen. Ganz am Ende steht ein großes Fest für Romo und die anderen Novizen. Die jungen Männer erhalten ein weiteres spezielles Schwirrholz. Gäste aus anderen Aborigines-Siedlungen kommen dazu. An die 300 Menschen werden den Festtag zusammen begehen. Bei meiner Habilitationsfeier 100 Jahre später sind es ungefähr 30. Meine Initiation in die akademische Welt der Universität gestaltete sich auch nicht ganz so hart. Ein echtes Reiferitual war sie dennoch.
Drehbücher und harte Schnitte
Rituale laufen nach einem Drehbuch ab. Ein klarer Anfang, mehrere deutlich abgegrenzte Schritte, ein Höhepunkt, manchmal mehrere, das krönende Ende. Aus ethnologischer Sicht sind Rituale kein Privileg exotischer Gesellschaften. Auch unser Leben in der modernen Gesellschaft wird durch sie geprägt und strukturiert. Wir versenden Glückwunschkarten oder besondere Mails zum Geburtstag an Freunde. Wir backen spezielle Kuchen zu Festtagen und Jubiläen oder sitzen zusammen beim Leichenschmaus nach der Beisetzung der Oma. Wir hören Ansprachen zur Einweihung des Kindergartens. Besonders häufig und wichtig sind Rituale beim Übergang von einem Lebensabschnitt zum nächsten. Diese mit Bedeutung aufgeladenen Prozeduren bestätigen öffentlich den Fortschritt eines Menschen. Der Prüfling will zu einer bestimmten Gruppe gehören oder einen höheren Rang bekommen. Zuvor muss er Wissen, Geschick, Besonnenheit, Ausdauer, Stärke und Mut unter Beweis stellen. Ein Paar will den weiteren Lebensweg miteinander gehen. Eltern, Freunde, Staat und eventuell die Kirche geben ihren Segen dazu.
Menschen aller Kulturen kennen solche Übergangsrituale (rites de passage) . Klassisch sind die Reiferiten zur Zeit der Pubertät. In allen Kulturen wird man rituell zum Erwachsenen gemacht und übernimmt gleichzeitig die Geschlechtsrolle. Der Zeitpunkt dafür ist aber sehr unterschiedlich, vom 5. bis zum 17. Lebensjahr. Es geht also eher um »soziale Pubertät« als um körperliche. Übergangsriten fangen mit der Geburt an und enden mit dem Tod, manche sogar erst lange danach. Bestimmte Rituale markieren auch Übergänge im Raum, wie den Umzug in ein neues Haus oder das Auswandern in ein anderes Land. Die meisten wichtigen Veränderungen im Leben werden so verdeutlicht. Ein neuer Mitarbeiter wird in der Abteilung aufgenommen. Ein junger Priester wird ordiniert. Ein Mensch ist zu einem Glauben konvertiert, und das wird gefeiert.
Reiferiten sind fast immer Dreiteiler. Wachsen die Kinder meist sehr frei und verwöhnt auf, beginnt der neue Lebensabschnitt mit einem harten Schnitt. Im ersten Akt wird die oder der Jugendliche vom bisherigen Leben getrennt. Gesellschaftlich und auch räumlich. Kleine Jungen in Ghana müssen außerhalb des Dorfs allein im Busch übernachten. Jungen im brasilianischen Regenwald müssen tagelang rohes Fleisch und ungekochte Pflanzen essen.
Dann kommt als zweiter Schritt das Lernen in Abgeschlossenheit. Ältere Menschen vermitteln das Repertoire der Werte und Handlungen, die man ab jetzt können soll. Diese
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