Heimat Mensch - Was uns alle verbindet
US-Amerikaner, haben nachgehakt. Martin ging der Inflation der Schneewörter als Erste nach und präsentierte ihre Befunde zur Eskimolegende 1982 auf einer Tagung. 1986 wurde ihr kurzer Aufsatz veröffentlicht, aber zunächst praktisch gar nicht beachtet. Erst einige Jahre später macht Pullum die wichtigen Ergebnisse bekannt. Er berichtet, dass Laura Martin den Aufsatz kurz nach der Tagung bei der ethnologischen Zeitschrift eingereicht hatte. Es dauert vier Jahre, bis er nach Prüfungen durch viele Gutachter von der Zeitschrift gedruckt wurde. Die »knochenköpfigen« Gutachter, wie Pullum sie nennt, hatten derweil das Papier noch um ein Drittel gekürzt und wichtige Zitate gestrichen. Erbarmungslos gekürzt erschien das Ganze auf fünf Seiten unter der Rubrik »Forschungsberichte«.
Geoffrey Pullum war ursprünglich Soulmusiker, bevor er sich entschied, Sprachwissenschaften zu studieren. Für ihn liegt in der Grammatik und anderen Themen der Linguistik noch mehr Musik als im Soul. In einer Zeitungskolumne nimmt er immer wieder wissenschaftliche Legenden in Sachen Sprache aufs Korn. Sein ebenso kritisches wie humorvolles Buch heißt frei übersetzt »Der große Eskimo-Schwindel. Respektlose Essays über das Studium der Sprache«.
Seinen Anfang nimmt der Schwindel noch ganz honorig. Franz Boas, einer der Urväter der Ethnologie, stammte aus Minden in Westfalen, emigrierte in die USA und begründete dort die Kulturanthropologie. Boas und Edward Sapir, ebenfalls ein Deutscher, der schon als Kind mit seinen Eltern einwanderte, interessieren sich für Indianersprachen. Im Reisegepäck haben sie Ideen von Humboldt und Herder. Jede Sprache ist einzigartig, und die Sprache bestimmt das Denken und die Kultur. In der Einleitung zu einem Handbuch erwähnt Boas 1911 eher beiläufig die Schneewörter der Eskimos. Er sagt, dass es bei ihnen vier lexikalisch voneinander unabhängige Wörter für Schnee gibt. Am Boden heißt er aput , qana ist fallender Schnee, piqsirpoq driftender Schnee, und qimuqsuq steht für eine Schneeverwehung. Boas merkt Ähnlichkeiten mit den vielen Wörtern für Wasser im Englischen an: liquid, lake, river, brook, rain, dew, wave und foam . Er stellt dann noch fest, dass die Schneeformen im Englischen durch die Verbindung von snow mit Zusatzwörtern gebildet werden. Interessante, aber nicht gerade umwerfende Erkenntnisse.
Edward Sapir fördert ein Nachwuchstalent, das uns schon begegnet ist: Benjamin Lee Whorf, den gewagten Kontrastverschärfer. Der redegewandte junge Mann kann andere für den Sprachrelativismus von Sapir begeistern. Whorf arbeitete als Agent einer Feuerversicherung in Connecticut und war durch einen Versicherungsfall zum Amateurlinguisten geworden. Ein Tank, der zwar kein Öl, aber noch Gas enthielt, war explodiert. Im Konflikt bestand der Versicherte darauf, der Kessel sei leer gewesen, alles Öl war schließlich entnommen. Die Versicherung dagegen argumentierte, er sei voll gewesen, nämlich mit Gas. Whorf begreift, dass die Bedeutung von Wörtern enorme Konsequenzen für das Denken und Handeln hat. Sein Mentor Sapir ist Spezialist für Indianersprachen, Whorf selbst aber hat kaum eine sprachwissenschaftliche Ausbildung oder gar echte Kenntnisse des Eskimoischen. Er liest Boas Bemerkungen und macht in einem eigenen Buch daraus kurzerhand einen kulturellen Kontrast zwischen der Eskimosprache und sämtlichen westlichen Sprachen. Das Buch wird ein Riesenerfolg und ist auch in Deutsch bis heute erhältlich: Sprache, Denken, Wirklichkeit .
Whorf stellt fest, dass Engländer die verschiedenen Vorkommensweisen von Schnee mit ein und demselben Wort beschreiben, und meint, ein solcher Generalbegriff sei für die Lebenswelt der Eskimo zu umfassend, er sei für sie »undenkbar«. Deshalb hätten sie – neben den von Boas genannten – weitere Begriffe für »Schnee, hart gepackt wie Eis«, »matschigen Schnee« und »windgetriebenen fallenden Schnee«. Die entsprechenden Eskimowörter gibt er allerdings nicht an. Pullum weist darauf hin, dass Whorf damit erstens eine falsche Aussage über das Englische trifft und zweitens aus vier Wörtern unter der Hand sieben macht. Statt seine Behauptung mit Daten, Zahlen und wissenschaftlichen Quellen abzusichern, lässt Whorf anklingen, es gebe noch weit mehr solcher Wörter. Spätere Autoren, die das Beispiel verallgemeinern und populär machen, beziehen sich fast nur noch auf Whorf, statt die Originalstelle von Boas oder andere zuverlässige Quellen
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