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Heimat Mensch - Was uns alle verbindet

Titel: Heimat Mensch - Was uns alle verbindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Antweiler
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ihre darauf bezogene Sprache.
    Hat die Öffentlichkeit aber eine wissenschaftliche »Tatsache« erst einmal als faszinierend entdeckt, lässt sie so schnell nicht mehr davon ab. Auf diese Weise hat sich auch eine bestimmte Art von Fluginsekten im öffentlichen Bewusstsein eingenistet: die Gottesanbeterinnen. Die Gänsehaut erzeugende Behauptung, die Weibchen dieser zu den »Fangschrecken« gehörenden Insekten würden während der Paarung beginnen, ihre Männchen zu verspeisen, beruht auf einem einzigen Foto. Wie man heute annimmt, handelte es sich dabei um ein krankes Exemplar. Egal, die Legende lebt. Die Vorstellung ist einfach zu schön, vor allem für Männer mit masochistischen Neigungen. Aufgrund ihres Unterhaltungswertes haben solche Märchen einen festen Platz in den Medien. Aber auch gestresste Pädagogen greifen in ihrer Not darauf zurück. Kaum ein Ethnologe wird von sich behaupten können, dass er nie versucht hat, Studenten mit der Eskimo-Story wach zu bekommen.
    Warum mussten gerade die Eskimo für ein solches Ethno-Märchen herhalten? Und warum wurde es so erfolgreich, wo doch die intellektuelle Tatsache, selbst wenn sie stimmte, nicht besonders spannend wäre? In unserer Vorstellung sind Eskimo so anders und so besonders, und das gleich in vielerlei Hinsicht, »polythetisch pervers«, wie der bekannte Linguist Steven Pinker witzelt. Als Grundnahrung knabbern sie an rohem Speck. Sie sind »Rohfleischesser«, wie schon ihr Name, ursprünglich eine Bezeichnung durch ihre indianischen Nachbarn, behauptet. Ich erinnere mich noch gut, wie ich als Kind hörte, dass einander liebende Eskimo die Nase reiben, statt sich zu küssen wie »normale« Leute. Als ich etwas älter war, wurde ich in die schlüpfrige Tatsache eingeweiht, dass die Männer ihren Gästen die eigene Frau für die Nacht anbieten. Das ist ein Dauerbrenner in Witzzeichnungen und steht in jeder zehnten Ausgabe des Playboy . Angeblich töten die Eskimo Kinder, wenn zu viele Esser für zu wenig Fleisch da sind, und sie werfen die Großmutter den Eisbären zum Fraß vor, wenn es im Iglu zu eng wird. Bei Ethnologen heißt das »Infantizid« und »Gerontozid«. All das ist aber entweder völlig übertrieben, gilt nur in ganz seltenen Fällen oder ist schlicht erfunden.
    Über Kulturen, die uns fremd sind, sind wir bereit, fast alles zu glauben. Vor allem akzeptieren wir alles, was sie uns noch fremder macht. Die absurden Kapriolen und grausigen Riten fremder Stämme geben eine interessantere Meldung ab als die Nachricht über ein Volk, bei dem es wie bei uns ein lineares Zeitsystem gibt, wo im Dezimalsystem gerechnet wird und die Menschen wie wir mehr schlecht als recht die Monogamie praktizieren. Eine an sich banale Beobachtung wird mit Bedeutung überfrachtet, die Tatsachen werden um der Pointe willen verzerrt. Die Inflation der Schneewörter ist aber nicht nur ein Ergebnis der Tendenz, Kulturunterschiede zu übertreiben. Sie hat auch mit der Idee des »edlen Wilden« zu tun und zeigt, dass wir die Kultur der Eskimo nicht nur bestaunen, sondern auch bewundern.
    Das Wörterbuch der Menschheit
    Gibt es im Meer der Sprachenvielfalt Wörter, die überall vorkommen? Schon die Frage mutet auf den ersten Blick unsinnig an. Aber schließlich leben die Menschen doch alle in einer physischen Umwelt. Gegenstände fallen überall nach unten. Wasser fließt einem weg, wenn man es nicht eingrenzt. Gegenstände wehren sich träge dagegen, bewegt zu werden. Wie könnte man solche Basiswörter finden? Eine einfache Möglichkeit besteht darin, viele zweisprachige Wörterbücher zu vergleichen.
    Diese Fleißarbeit haben einige »deskriptiv vergleichende« Linguisten unternommen. Dabei erhält man ein grundlegendes Vokabular zu Naturphänomenen (»Berg«), Körperteilen (»Arm«) und anderen konkreten Objekten (»Stein«). Es scheint tatsächlich eine Art Basiswortschatz zu geben. Mit dieser Methode stößt man allerdings an Grenzen, denn Wörterbücher übertreiben die Eins-zu-eins-Entsprechung zwischen Begriffen. Wenn ich im Wörterbuch Deutsch–Indonesisch unter »Dorf« nachschaue, steht dort das indonesische Wort desa . Das stimmt, aber nur in etwa. Für Indonesier ist ein desa nicht unbedingt eine geschlossene Einheit. Das kann durchaus auch eine kilometerlang ausgedehnte Streusiedlung sein. Im Indonesischen gibt es auch noch andere Wörter, wie dusun und kampung , die Ähnliches wie das deutsche »Dorf« meinen, aber eben nur Ähnliches. Ein kampung kann

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