Heimat Mensch - Was uns alle verbindet
Dinge mit frei gewählten Wörtern benennen, deren Klang nichts mit dem gemeinten Ding zu tun hat. Die Freiheit scheint schon darin unbegrenzt, wie eine Sprache einen Gegenstand bezeichnet. Das Farbspektrum zwischen Blau und Grün ist physikalisch fließend. In einigen asiatischen Sprachen sind die Wörter für beides gleich, anders als wir das für »natürlich« halten, gibt’s bei ihnen »blün«. Angesichts dieser Freiheitsgrade und der Vielzahl von Sprachen wirkt die Frage nach Gleichheiten zwischen allen Sprachen auf den ersten Blick absurd.
Fast alle Länder der Welt sind mehrsprachig. Der einheitliche Nationalstaat oder die Kulturnation mit einer Kultur und einer Sprache ist eher ein Fantasieprodukt als verwirklichte Realität. In vielen Ländern gibt es mehrere Dutzend, in manchen sogar mehrere Hundert Sprachen. In Indonesien mit seiner kontinentalen Ausdehnung und seinen rund 15000 Inseln sind es mindestens so viele, wie das Jahr Tage hat, nach manchen Angaben sogar über 700. Das Land beherbergt Hunderte von ethnischen Gruppen, und fast jede hat ihre eigene Sprache. Die rund 230 Millionen Menschen leben aber zusammen in einem Land und müssen miteinander umgehen und auskommen. Als Lösung des Problems wurde von Nationalisten noch zur holländischen Kolonialzeit ab den frühen 1930ern eine nationale Verständigungssprache propagiert, Bahasa Indonesia , die »indonesische Sprache«, die in unserer Schrift geschrieben wird.
Es ist eine Variante des Malaiischen, wie es auch im Nachbarland Malaysia gesprochen wird. Das Malaiische hatte sich seit 1600 vor allem durch islamische Händler im ganzen Inselraum zwischen Burma, China und Australien verbreitet. Langsam entstand ein »Basar-Malaiisch«. Als Kontakt- und Verkehrssprache zwischen verschiedensten Völkern hatte die Sprache Wörter aus deren Sprachen aufgenommen: indische, arabische, chinesische und auch holländische. Diese historisch gewachsene Promenadenmischung wurde erst nachträglich systematisiert und erhielt eine Grammatik. Der Modernisierungsprozess des Indonesischen dauert bis heute an. Jedes Jahr lässt die Sprachenbehörde in Jakarta mehrere Hundert neue Wörter offiziell zu.
Mit der schieren Zahl der lokal verbreiteten Dialekte und Sprachen ist die Vielfalt noch lange nicht erschöpft. In den meisten Sprachen haben spezielle soziale Gruppen bestimmte Sondersprachen, etwa Grubenarbeiter, Gauner oder Gebildete. Das nennt man Soziolekte. In einigen Sprachen gibt es unterschiedliche Sprachebenen, je nachdem, mit wem man spricht. Ist der Gesprächspartner sozial höher gestellt als ich oder niedriger? Und was ist mit der dritten Person, die uns beiden zuhört? Diese Fragen musste sich ein Mensch im traditionellen Java jeden Tag stellen. Javanisch ist eine der indigenen Sprachen des indonesischen Vielvölkerstaats. Wie gesagt, nahmen die Javaner sozialen Status sehr ernst, egal ob sie in der sozialen Pyramide oben oder unten standen. In ihrer Sprache gab es bis ins 19. Jahrhundert je nach Stand der am Gespräch Beteiligten sechs verschiedene Sprachebenen.
Die Inflation der Schneewörter
Immer wieder kann man hören oder lesen, die Eskimo (Inuit) hätten sage und schreibe 80 oder mehr Begriffe für »Schnee«. Wie beim populären Ethno-Mythos über die Zeitvorstellung bei den Hopi handelt es sich hier um eine der vielen weithin wirksamen Falschmeldungen. Die Eskimo kennen kaum mehr Wörter als das Deutsche oder Englische für die weiße Pracht. Auch wir sprechen ja von »Firn«, »Harsch«, »Pulverschnee«, »Sulz« und »Matsch«. Vor allem nutzen sie nicht mehr Wörter für Schnee, als bei uns oder im Englischen für Wasser gebraucht werden. Etwas anderes ist auch von keinem Kenner der Familie der Inuit- und Yupik-Sprachen, die am Polarkreis von Grönland bis Sibirien gesprochen werden, jemals behauptet worden.
Die Mär von den vielen Schneewörtern geistert unbeirrt durch Medien und Pop-Ethnologie, obwohl sie Schnee von gestern ist und die Wissenschaft sie längst widerlegt hat. Lieb gewordene Klischees tauen nur sehr langsam. So werden den meisten Deutschen die 80 Schneewörter automatisch einfallen, wenn sie über die fremden Völker im Norden staunen. Gleich nach dem Iglu, den kaum ein Eskimo von heute je in seinem Leben von nahem sehen wird. Wie kommt es zu solchen Falschmeldungen der Wissenschaft, und warum überleben diese Legenden so hartnäckig?
Laura Martin, eine Ethnologin, und der Sprachwissenschaftler Geoffrey Pullum, beide
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