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zu nutzen.
Bald kümmert sich keiner mehr groß darum, wie viele Wörter die Eskimo tatsächlich für Schnee verwenden. Wie bei einer Klatschgeschichte wird der an sich kümmerliche Befund mächtig aufgebläht. Das kleine Beispiel, mit dem Boas vor oberflächlichem Sprachvergleich warnen wollte, ist zum kulturrelativistischen Selbstläufer geworden und wird genutzt, um Kulturen extrem zu kontrastieren. In den 1960er und 1970er Jahren avanciert es zum Standardinhalt in amerikanischen College-Lehrbüchern der Sprachwissenschaft. Ein populäres Lexikon wartet mit der drolligen Erklärung auf, in der Umwelt der Eskimo gebe es so wenig, über das sich zu sprechen lohnt, dass sie ihre Konversation mit Schneewörtern aufpeppten.
Die Inflation der Schneewörter nimmt ihren Lauf. Im Jahr 1978 behauptet jemand, es handle sich um 50 verschiedene Begriffe. Ein Kolumnist der angesehenen New York Times erhöht 1984 auf 100. Das Cleveland TV in der amerikanischen Provinz lässt sich nicht lumpen und reichert den Wetterbericht in kalten Wintern immer wieder mit der Behauptung an, die Eskimo hätten 200 Wörter für Schnee. Pullum sucht weitere Quellen. Er stellt fest, dass die New York Times , »das amerikanische Periodikum, das einer ernsthaften Zeitung am nächsten kommt«, wie er so schön sagt, 1988, also nur vier Jahre später, die Zahl auf vier Dutzend herunterschraubt. Ohne jede Begründung wird sie einfach halbiert, im Wissenschaftsteil! Die ganze Haltung dazu: Egal, ob die Eskimo 3, 9, 100, 200 oder 400 Schneewörter haben, Hauptsache, es sind sehr viele.
Seit 1983 lehrt Pullum an der Uni in Santa Cruz im sonnigen Kalifornien. Der Sprachwissenschaftler hat es satt, dass in populären Schriften Falschmeldungen grassieren. Ihn ärgert, dass die Kollegen nichts dagegen unternehmen. Im Gegenteil, Textbücher der Linguistik wiederholen das Schneemärchen Auflage für Auflage. Er findet es unerhört, dass niemand Laura Martins Forschung zur Kenntnis nimmt. Schließlich hält Pullum 1985 einen öffentlichen Vortrag an seiner Uni. Im Publikum sind Kollegen, Studenten und interessierte Laien. Als Fachmann macht er mit sarkastischen Worten und reichlich Humor auf die Legende aufmerksam. Er hofft, dem Spuk damit ein Ende zu bereiten.
Es kommt ganz anders. In den nächsten Monaten sitzen immer wieder Studenten in seiner Sprechstunde. Dozenten anderer Fächer haben ihnen begeistert vom ausgefeilten Schneevokabular der Eskimo erzählt. Sein Sohn kommt von der Junior High School nach Hause und erzählt mit leuchtenden Augen dasselbe. Die Wochenzeitung von Santa Cruz bringt das Wissenschaftsmärchen unter der Rubrik »Faszinierende Fakten«. Es ist wie verhext, Pullum erlebt immer wieder, wie junge Managementpsychologen und dynamische Verwaltungswissenschaftler die Eskimolegende in ihre Vorträge einbauen. Das Publikum liebt die Geschichte wie die Spinne in der Yuccapalme.
Pullum hat in seinem Windmühlenkampf den kalifornischen Humor nicht verloren. In seiner Kolumne fordert er seine Leser auf, Mut zu beweisen. Sie sollen bei solchen Vorträgen aufstehen und den Redner in die Enge treiben: »Im klassischen Wörterbuch des Eskimoischen stehen zwei Basiswörter für Schnee: aput und quanik . Können Sie mir mehr zitieren?« Allerdings warnt der aufrechte Wissenschaftler, dass man sich auf diese Weise nicht unbedingt zur beliebtesten Person im Saal macht. Vermutlich aus eigener Erfahrung meint er, es habe den Effekt, als würde man während einer feinsinnigen Aufführung von Barockmusik ein paar Gallonen Weizenmehl in die Orgel schütten.
Gottesanbeterinnen und Rohfleischesser
Wie viele Wörter haben die Eskimo nun tatsächlich für Schnee? Die wenigen Spezialisten für diese Sprache sind sich über die genaue Zahl nicht völlig einig. Fest steht: Es ist bestenfalls rund ein Dutzend. Und das ist nicht weiter verwunderlich, auch bei Wüstenbewohnern werden Sandfarben und Dünenformen etwas genauer unterschieden. Selbst wenn es eine Sprache mit einer Unzahl an Worten für verschiedene Schneetypen gäbe, wäre das intellektuell nicht besonders interessant. Niemanden wundert es, dass Pferdezüchter viele Bezeichnungen für Pferdetypen, -größen und Altersstufen haben, dass Kaffeeröster viele Sorten und Röstgrade kennen und Drucker viele Fonts unterscheiden. Diese Feststellungen sind ebenso zutreffend wie unspektakulär. Je besonderer die Umwelt oder Lebensweise einer Kultur, Subkultur oder Expertengruppe ist, desto differenzierter ist
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