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Heimat Mensch - Was uns alle verbindet

Titel: Heimat Mensch - Was uns alle verbindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Antweiler
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eigenen Land hat er es anders erlebt. Er setzt sich mit seinem Kollegen Edward Fisher zusammen und stellt Daten von 166 Gesellschaften zusammen. Sie sind aus der großen interkulturellen Datensammlung so ausgewählt, dass alle Weltgegenden und alle Typen von Kulturen repräsentiert sind. Jäger-und-Sammler-Gesellschaften, die eine einfache Wirtschaft haben und soziale Gleichheit leben, sind ebenso vertreten wie Kulturen mit gesellschaftlichen Schichten und einer komplexen Wirtschaft. Die erste Veröffentlichung ihrer Ergebnisse im Jahr 1992 weist in 146 von ihnen ganz klar das Vorkommen romantischer Liebe nach. Die kritische Überprüfung ihrer Ergebnisse förderte inzwischen sogar eine noch höhere Zahl zutage.
    Bei vielen Sozial- und Kulturwissenschaftlern sind diese Fakten bis heute nicht angekommen. Die Räder der Wissenschaft mahlen manchmal langsam. Vor allem, wenn die Resultate nicht ins gängige Bild passen. Kaum einer von ihnen zweifelt daran, dass sich Mutterliebe oder Geschwisterliebe weltweit überall finden. Die romantische Liebe aber gilt als typisch westliches Kulturprodukt. Die Feudalgesellschaft des Mittelalters habe sie quasi als Nebeneffekt der höfischen Liebe »erfunden«. Die schwärmerische Umwerbung von Adelsfrauen durch Ritter und Minnesänger war bar jeder Körperlichkeit und damit keine Gefahr für die politisch kalkulierten Ehen des Adels. Im Unterschied zu heute, wo die Romantik am Anfang einer längeren Partnerschaft steht, war das höfische Anhimmeln eine Liebeserklärung ohne tatsächliche Beziehung.
    In der Renaissance, der Aufklärung und der Moderne habe sich die romantische Liebe zu einer Herzensangelegenheit des Bürgertums entwickelt. Im 19. Jahrhundert wurde die Idee als tragische Leidenschaft zum Romanstoff und damit richtig populär: Die Herzensglut bricht alle gesellschaftlichen Konventionen und muss deshalb grandios scheitern. Aber auch bei uns gibt es das vor allem auf der Bühne und im Groschenheft, so das herrschende Dogma. Im richtigen Leben sei Romantik selten.
    Für die Sozialhistoriker ist das Phänomen ein Nebenprodukt besonderer Umstände. Romantische Liebe braucht gesellschaftliche Schichten, so das Argument. Sie kann nur da existieren, wo es eine Klasse gibt, die viel Freizeit hat und eine blühende literarische Tradition. Einige Ethnologen meinen, der Liebeszauber entfalte sich erst, wenn eine Kultur dem Einzelnen große Freiräume lässt. Das sei in Kulturen der Fall, die entweder sehr mobil sind, zum Beispiel Nomaden, deren soziale Netzwerke locker sind oder in denen es wenig andere Intimität gibt. In solchen Kulturen biete romantische Liebe dem Individuum die Möglichkeit, den Widersprüchen seiner Kultur für kurze Zeit zu entfliehen. Solche Gesellschaften kann man aber an einer Hand abzählen. Sie würden nichts am unromantischen Gesamtbild ändern.
    Die Idee der entflammten Liebe gilt als ebenso westlich wie die Trennung von Privatsphäre und Öffentlichkeit, als Konvention unserer Breitengrade, wie man eine Beziehung beginnt. Als Erfindung von Dichtern könne sie nicht in der menschlichen Natur liegen, sie sei ein »Konstrukt westlicher Kulturen«. Viele Gesellschaften außerhalb Europas haben gar kein Wort für die romantische Leidenschaft. Findet man sie heute auch außerhalb unseres Kulturareals, sei das auf christliche Mission und die globale Popkultur zurückzuführen. Westliche Filme und Bücher würden Romanzen als Beginn einer langen Beziehung weltweit propagieren.
    Warum beharren die Sozial- und Kulturwissenschaftler so hartnäckig auf einer Feststellung, die unseren Intuitionen und gesicherten Forschungsergebnissen zuwiderläuft? Mein Verdacht ist, dass hier der besondere Ausdruck mit dem zugrunde liegenden Gefühl verwechselt wird. Wissenschaften können sich irren, mitunter sogar ziemlich dauerhaft, wenn ihr Horizont zu eng ist. Und kaum jemand hat den Blick so weit gefasst wie Fisher und Jankowiak.
    Freizügige Südsee
    Fremde Kulturen werden gern herangezogen, um zu zeigen, dass es auch ganz anders zugehen kann als hierzulande. Meist steht der kontraststarke Direktvergleich im Vordergrund. Es geht um die Frage: Wer macht es besser und kann zum Lehrmeister für den anderen werden? Lange Zeit wurde dem kultivierten und feinfühligen Liebesideal, das uns aus der eigenen Lebenswelt vertraut ist, eine angeblich primitive Praxis von Wilden gegenübergestellt, die sich wahllos aufeinanderstürzen. Roh und unzivilisiert, wie man sie sich vorstellt,

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