Heimat Mensch - Was uns alle verbindet
geht es ihnen um unmittelbare sexuelle Befriedigung, und sie kommen direkt zur Sache. Für die Blumenkinder der 1960er Jahre wurden sie eben dadurch zu Vorbildern. Jetzt waren sie glückliche »Naturvölker«, die sich frei vom abendländischen Ballast ihren natürlichen Gefühlen hingeben konnten. Sie wurden zum Gegenbild der prüden westlichen Zwangskultur mit ihren künstlich auferlegten Grenzen. Bräuche anderer Kulturen werden immer wieder als Belegmaterial genutzt, um eigene Ideale zu stützen. Dabei blickt man mitunter großzügig darüber hinweg, wie sie tatsächlich leben. Das ist immer wieder auch Ethnologen so gegangen.
Der Amerikaner Donald Marshall hat 1950 die Kultur der Mangaia auf den Cook-Inseln in der Mitte des Pazifiks untersucht. Er stellt die Polynesier als fundamental triebhaft dar, als regelrecht sexbesessen. Es gehe ihnen vor allem um Beischlaf, romantische Liebe sei bei ihnen ebenso unbekannt wie andere starke Gefühle. Die Sorge um andere Menschen, auch in Beziehungen, kennen die Mangaia-Leute nach Marshall nicht. Ihre Beziehungen seien locker, sie wechselten die Partner häufig und hätten oft mehrere nebeneinander. Ihr Liebesleben bestehe aus einer Serie von One-Night-Stands . Da scheint es zu passen, dass ihr Wort für Liebe, tika , einfach so viel heißt wie sexuelle Treue.
Als Helen Harris 40 Jahre später ihre Feldforschung bei den Mangaia beginnt, können ihre Informanten über solche Aussagen nur herzlich lachen. Tatsächlich spielen Romanzen bei ihnen eine eminent wichtige Rolle. Harris führt Ausdrücke wie inangaru an, das »wollen, brauchen, mögen und lieben« bedeutet. Atingakau heißt so viel wie »gebrochenes Herz«. Nicht gerade Hinweise auf fehlende Emotionen! In der Mangaia-Kultur finden sich alle Ingredienzien des universalen Cocktails romantischer Liebe. Der Partner wird angehimmelt. Es gibt Liebesgedichte und Liebesgesänge. Harris befragt alte Menschen nach ihrer Jugend und erfährt, dass diese Liebeslyrik auf der Insel bereits vor den christlichen Missionaren kursierte.
Warum hat Marshall das alles nicht gefunden? Wir wissen es nicht. Vielleicht war er ein prüder Amerikaner, der die größere Freizügigkeit der Insulaner anprangern wollte. Vielleicht sprach ihn aber auch gerade das an. In jedem Fall hatte er als wissenschaftlicher Südseereisender in seinem Gepäck die Annahme »primitiver Promiskuität«. So schob er auch Beobachtungen beiseite, die eigentlich auf romantische Liebe hinwiesen. Unter jungen Mangaia kommt es häufiger zu Selbstmord, wenn die Eltern den Wunschpartner ablehnen. Marshall versuchte die Tragödien als sexuelle Eifersucht herunterzuspielen. Die Südsee ist der richtige Ort für falsche Vorstellungen. Für Westler war sie immer ein Land der Fantasien und Projektionen, nicht erst seit Gauguin. Eurozentrische Scheuklappen sind aber nicht das einzige Hindernis.
Geheime Zeichen
Die romantische Liebe macht es den Forschern schwer, etwas über sie herauszubekommen. Gibt es überhaupt klare Kriterien, ob sie vorliegt oder nicht? Das Wichtigste an romantischer Liebe spielt sich im Kopf ab. Und da kann auch der versierteste Ethnologe nicht hineingucken. Naheliegend ist es, Menschen über ihre Liebe und ihre Liebsten zu befragen. Das machen Psychologen und Ethnologen, aber es erfordert Vertrauen und Fingerspitzengefühl. Besonders in nichtwestlichen Kulturen. Welche Worte soll ich überhaupt verwenden? Einerseits besteht die Gefahr, dass meine Fragen bereits passende Antworten suggerieren. Andererseits kann es passieren, dass die Menschen eher so antworten, wie es sich in ihrer Kultur gehört. Sie interpretieren und filtern ihre Erlebnisse, bevor sie darüber reden. Das wirkliche Fühlen und Handeln steht eventuell auf einem ganz anderen Blatt.
Emotionen können versteckt werden, weil kultureller Druck das erzwingt. Und selbst wenn Gefühle gezeigt werden, bleibt es für die Forscher schwierig, sie mit anderen Kulturen zu vergleichen. US-Amerikaner etwa berichten den Psychologen, dass sie euphorisch und ruhelos sind, wenn sie lieben. Sie sagen, dass sie als Verliebte Tagträume, Konzentrationsmangel, Ruhelosigkeit und Schlafstörungen haben. Es ist aber kaum anzunehmen, dass ein vergleichbares Erleben auf einer Südseeinsel, am Polarkreis oder am Amazonas in diese Begriffe gebracht wird.
Man sollte also versuchen, Liebespaare konkret zu beobachten. Aber die haben universal die Neigung, sich zurückzuziehen. So wie es kaum irgendwo öffentlichen
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