Heimat Mensch - Was uns alle verbindet
gerät. Also werden starke Emotionen unterdrückt. In Großfamilien ist absolute Loyalität zum Oberhaupt genauso wichtig wie die Loyalität der Familie zum Stammesführer. Großfamilien sind ein Merkmal geschichteter Gesellschaften, die auf der Skala der Komplexität zwischen den Mangaia und uns stehen. Hier gibt es Stände oder Klassen, und der Status der Heiratspartner wird sehr wichtig genommen.
Auch bei den Beduinen finden wir Liebeslieder und Gedichte über die Tragik unglücklicher Liebe. Solche Gefühle sind durchaus gesellschaftlich akzeptiert, aber nur auf der persönlichen Ebene. Nicht geduldet wird, dass davon etwas an die Öffentlichkeit kommt. Auch bei den Beduinen und bei den Fulbe gibt es Liebespaare. Ethnologen sehen junge Leute, die verstohlene Blicke wechseln. Sie beobachten junge Menschen, die die Nähe eines anderen suchen, auch wenn sie im Interview leugnen, verliebt zu sein. Es ist also offensichtlich, dass es romantische Liebe zwar gibt, öffentlich bekennt sich aber keiner dazu. Sie wird einfach geleugnet.
Nach islamischer Tradition ist leidenschaftliche Liebe, ishq , etwas anderes als Zuneigung und »normale« Liebe. Sie vernebelt einem den Kopf. Man handelt unweise. Wer sich offen zu dieser Leidenschaft bekennt, erweist sich als dumm. Er wird als krank angesehen, vielleicht gemieden, zumindest belächelt und bemitleidet. Für meine Gastfamilie in Ujung Pandang ist Verliebtheit mit allen ihren Risiken und Nebenwirkungen ein typisches Phänomen der Jugend. Sind ältere Paare betroffen, wird ihnen geraten, dringend einen Heiler aufzusuchen. Bei Erwachsenen erwartet man eher eine Form von gegenseitigem Wohlwollen und Respekt.
Solche Vorstellungen von Mäßigung, das Belächeln einer Amour fou und die Weisheit »Liebe macht blind« kennen wir auch aus unsrer Gesellschaft. Lassen wir uns also nicht von dem Eindruck täuschen, dass romantische Liebe in manchen Gesellschaften nicht so deutlich in Erscheinung tritt. Vorhanden ist sie überall. Aber wie die Sexualität ist sie eine starke Kraft, und in manchen Kulturen wird sie mit einigem Aufwand an die Kandare genommen.
Unromantische Liebeserklärungen
Lässt sich Verliebtheit und romantische Liebe erklären? Die meisten Wissenschaftler versuchen das Phänomen nicht auf eine einzige Ursache zurückzuführen, sie belassen es dabei, Bedingungen zu benennen. Für fast alle Forscher gehört zur romantischen Liebe die emotionale Erregung, die Erotik und dass der Partner idealisiert wird. Andere meinen, die Liebe auf den ersten Blick und der Wunsch nach endloser Bindung dürften ebenfalls nicht fehlen. Manche halten die totale Konzentration auf die geliebte Person für zentral, andere Mitgefühl und Sorge. Ein abgerundetes Bild gibt die umfangreiche Liste von Fisher und Jankowiak.
Wenn es ans echte Erklären geht, streiten sich die Gelehrten. Unklar ist zum Beispiel, wie der »Himmel voller Geigen« sich vom schlichten Mögen und von kameradschaftlicher Zuneigung abgrenzen lässt. Wie unterschiedlich die Deutungen auch sind, eines haben sie gemeinsam: Sie sind alles andere als romantisch.
Traditionelle Erklärungen halten romantische Liebe für kulturell erlernt. Menschen hören in bestimmten Kulturen viel von Romantik, und sie beobachten als Kinder die Romanzen der Erwachsenen. Als Heranwachsende treten sie dann selbst in diese Fußstapfen. Sexuelle Impulse, die eher hormonell bestimmt sind, haben für diese Fraktion nichts mit der Romantik zu tun. Das sieht Helen Harris, die führende Liebesanalystin, ganz anders. Sie betont, dass es bei der romantischen Liebe vor allem um Chemie und Gene geht. Wie die anderen Emotionen beruhe auch die schwärmerische Liebe auf der Physiologie und Biochemie des Gehirns.
Gerade die neueren Erklärungen holen uns aus den Gefilden kultureller Ideale auf den harten Boden der biologischen Existenz zurück. Will man erste Verliebtheit erklären oder die Liebe eines Lebens? Ein Hormon, wie Oxytocin, das durch Streicheln der Geschlechtsorgane freigesetzt wird, ist – zusammen mit anderen Faktoren – für lange Liebesbindungen zuständig, nicht aber für Liebe auf den ersten Blick. Harris hat auch eine weiter greifende Erklärung parat. Sie sagt: Romantische Liebe fördert das Engagement der Eltern für ihre Kinder. Schon bei den Urmenschen erhöhte das die Zahl der Kinder, die bis in die nächste Generation überlebten. Für sie ist romantische Liebe also letztlich eine biologische
Weitere Kostenlose Bücher