Heimat Mensch - Was uns alle verbindet
Umlaufbahnen, Bahnneigung und andere Details. Und ich baue Nachbildungen von Raketen und Raumschiffen aus Pappe und Papier. Die vorgefertigten Modelle aus gestanzten Plastikteilen von Revelle interessieren mich nicht so sehr, denn ich will Maßstab und Details selbst bestimmen. Deshalb gebe ich mein gesamtes Taschengeld für Raumfahrtzeitschriften aus und besorge mir Zeichnungen aus Büchern. Informationen sind zu dieser Zeit noch Mangelware.
Eine besondere Herausforderung ist die Nachbildung sowjetischer Raumschiffe wie Wostok und Soyuz . Also tippe ich auf einer alten Schreibmaschine Briefe an die Nachrichtenagenturen Novosti und Tass . Meinem Vater sage ich erst mal nichts davon. Er hat sechs Jahre in russischer Gefangenschaft gesessen und ist der größte Antikommunist unter der Sonne. Es dauert zwar Monate, aber dann bekomme ich tatsächlich Post aus Moskau, dicke Umschläge mit geheimnisvollen Briefmarken. Der Inhalt: Broschüren mit genauen Daten und Bildern der russischen Raumschiffe, dabei echte und gestochen scharfe Fotoabzüge und sogar Autogramme der Kosmonauten und als Zugabe noch einige Propagandaschriften über die »strahlende Zukunft des Sozialismus«.
Die Zeitschrift Life passte meinen Eltern besser in den Kram als die Post »vom Iwan«. Sie war proamerikanisch und zeigte den American Dream auf Hochglanzpapier. Das US-Blatt gab es nur am Hauptbahnhof, und meine Eltern kauften nur selten eine Nummer, denn die Hefte waren sündhaft teuer. Ab und an bekamen wir auch mal eine Ausgabe aus den Staaten geschickt – von entfernten Verwandten im kalifornischen Santa Rosa. Kaum war ein Heft da, habe ich mich darauf gestürzt.
Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich bei strahlendem Wetter auf dem Balkon sitze und im Life Magazine blättere, dazu Cornflakes. Ein Traum. Ich bin ungefähr neun Jahre alt, und einen Fernseher haben wir noch nicht. Langsam lege ich die großen Seiten mit den riesigen Fotos um. Neben den Raumschiffen interessieren mich Autos, vor allem die amerikanischen Straßenkreuzer. In der Life begeistern mich deshalb schon die ganzseitigen Autoanzeigen. Da wird für den Kauf eines Lincoln Continental oder eines Cadillac Eldorado geworben. Auf den Werbefotos steht so ein großer Schlitten immer vor einem Bungalow. Kinder tummeln sich am riesigen Pool. Die Hausfrau und einige Freundinnen, allesamt superschlanke Blondinen à la Barbie, lehnen lässig an der Karosse. Der Vater der Familie kommt gerade in bester Stimmung von der Arbeit. Auffällig, wie gut gelaunt ausnahmslos alle sind!
Als die erste Life 1936 ausgeliefert wird, sind die USA von der Wirtschaftskrise schwer angeschlagen, und die Welt steht bereits am Rand des Kriegs. Der Clou der Zeitschrift ist ihre kompromisslos visuelle Ausrichtung. Sie besteht fast ganz aus großformatigen Fotos. Außer den Bildunterschriften gab es kaum Text. Entsprechend heißt es in der programmatischen Erklärung: »Das Leben sehen, die Welt sehen, Augenzeuge großer Ereignisse sein, die Gesichter der Armen und das Gehabe der Stolzen erblicken – Maschinen, Armeen, Menschenmassen; Dinge wahrnehmen, die Tausende von Kilometern entfernt sind, hinter Mauern, in Innenräumen, an die heranzukommen gefährlich ist; sehen und am Sehen Freude haben; sehen und staunen; sehen und belehrt werden.«
Neben der heilen Welt der Hochglanzwerbung zeigt die Zeitschrift mir auch, wie vielfältig und gespalten die Wirklichkeit ist. Direkt nach den schicken Anzeigen kommt eine Schwarz-Weiß-Bildstrecke über den Vietnamkrieg. Das ist weit weg, aber die Fotos bringen mir das Geschehen bedrohlich nahe. Warum solche Gräuel? Warum gibt es überall Kriege? Warum gibt es aber auch überall Liebe und Gastfreundschaft? Manchmal sind Kinderfragen Menschheitsfragen. Das Magazin entführt mich in andere Welten. Life vermittelt mir einen Blick hinter den engen deutschen Horizont.
Life zeigt einen Planeten, auf dem die Kulturen miteinander vernetzt sind. Neben den aktuellen Reportagen lese ich immer wieder große Berichte über die Zivilisationen früherer Zeiten. Vor allem bietet fast jedes Heft Bilder und Berichte über fremde Kulturen der Gegenwart. Schon seit den 1950ern gab es zu dem Magazin auch Bücher. Das waren Bände im Megaformat, wie Das Epos des Menschen und Die Welt, in der wir leben , die im Verlag Time Life herauskommen. Ich entleihe mir diese Folianten in der kleinen Stadtbibliothek. Immer nur einen, denn mehr kann ich nicht nach Hause tragen. Dann ziehe ich mich
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