Heimat Mensch - Was uns alle verbindet
identische Substanz zutage tritt. Diese Verquickung von Vielfalt der Menschen und Einheit ihres Handelns und ihrer Emotionen faszinierte ein Millionenpublikum. Bis 1964 hatten fast zehn Millionen Menschen die Ausstellung gesehen.
Steichen war Luxemburger und hatte sich gewünscht, dass seine Menschheitsschau ihre endgültige Heimat im Großherzogtum finden sollte. Nach dem Ende ihrer Weltreise schenkten die USA den Luxemburgern 1966 eine Version der Wanderschau. Sie wurde in Teilen in einem Schloss ausgestellt, aber die Fotos waren durch die vielen Transporte reichlich ramponiert. Der Glanz schien dahin. Zu dieser Zeit gab es ein ähnliches Ausstellungsprojekt in Deutschland. 1964 widmete sich die »Weltausstellung der Photographie« der Frage »Was ist der Mensch?«. Schon diese Schau war deutlich schwächer als Steichens visionäres Projekt. Pathos und Fortschrittsenthusiasmus der Nachkriegszeit waren verflogen. Der Zeitgeist schien an Bildern einer die Welt umspannenden Menschheit nicht mehr interessiert.
Erst 1990 wurde Steichens Ausstellung nach langem Dornröschenschlaf wiederentdeckt. Nach der notwendigen Restaurierung, die drei Jahre in Anspruch nahm, erlebte sie aber ein fulminantes Comeback. Als sie in erneuerter Form in Toulouse, Tokio und Hiroshima gezeigt wurde, kamen wieder Tausende. Der Mythos der Ausstellung hatte die Jahrzehnte überdauert. 1994 fand die Sammlung ihre endgültige Bleibe im Schloss Clervaux in Luxemburg. Die UNESCO nahm sie 2003 in das Register »Gedächtnis der Menschheit« auf.
Ich habe mir die Ausstellung 2005 angesehen, genau 50 Jahre nach der Eröffnung in New York. Clervaux liegt ab vom Schuss. Die Fahrt ist lang, Freunde nehmen mich mit, und ich habe viel Zeit, um einen frühen Verriss der Menschenschau zu lesen. Es ist ein Kapitel in einem legendären Suhrkamp-Klassiker, den Mythen des Alltags von Roland Barthes. Das Pariser Gastspiel der Schau veranlasste Barthes, Steichens Ausstellung genüsslich und wortgewandt zu zerlegen. Er hält die Schau für moralisierend, sentimental und pseudoreligiös. Die Verschiedenheit der Menschen werde über Hautfarben und exotische Gebräuche erst einmal gesteigert. Gezeigt werde ein pluralistisches Mosaik: Alt und Jung, Arm und Reich, Schwarz und Weiß.
Aus dieser babylonischen Vielfalt zaubere Steichen dann die Menschheit als Einheit hervor, indem er einen Mythos erschafft: Das Ganze laufe darauf hinaus, eine unwandelbare Natur des Menschen zu postulieren, »und schon ist Gott bei unserer Ausstellung wieder eingeführt«. Besonders die Texte unterstrichen die spirituelle Absicht. Die großen Einsichten erscheinen so zeitlos gültig wie die Menschheitsthemen auf den Fotos. In einem solchen Weltbild haben Geschichte und Politik keinen Platz mehr. Alles ist Schicksal. Gesellschaftliches wird zur Naturtatsache. Das kaschiere Ungleichheit, um Macht zu stabilisieren.
Anlässlich der Wiedereröffnung 1994 erscheint ein Jubiläumsband. Wie zu erwarten, sind fast alle Beiträge darin eine Hommage an Steichen. Der große Sohn des kleinen Landes wird gewürdigt. Kritische Töne sind da Mangelware. Im Umfeld der Ausstellung entbrennen jedoch intensive Debatten. Bei einer Tagung von Kunstgeschichtlern und Medienwissenschaftlern zur »Revision« der legendären Ausstellung wird Barthes’ zugespitzte Kritik als Steilvorlage dankbar aufgenommen. Die Schau inszeniere eine monumentale Verbrüderung, die soziale Unterschiede »diktatorisch verleugnet«. Sie betone unfreiwillig Körperunterschiede, im Klartext: sie sei rassistisch. Man attestiert ihr eine »dröhnende Didaktik«. Einige Kritiker setzten noch eins drauf: Steichens Ausstellung sei ein Instrument des amerikanischen Imperialismus im Kalten Krieg gewesen. Das verkappte Ideal der »Menschenfamilie« sei die amerikanische Familie.
Mit all diesen Vorbehalten im Kopf und meinen Kindheitserinnerungen an die Fotos im Life Magazine schlendere ich durch die Ausstellung. Die ist tatsächlich streckenweise sentimental. Immer wieder sehe ich strahlende Liebespaare, traute Familien und süße Kinder. Ich lese die Zitate von Buddha, Gandhi und vielen anderen und fühle mich in der Bibelstunde. Die unterschwellig religiöse Stimmung nervt. In vielem ist die Ausstellung tatsächlich ein Vorläufer des verbreiteten Gutmenschenklischees à la »Wir sitzen alle in einem Boot«.
Von den Olympischen Spielen bis zu den globalen Wohltätigkeitsevents spielen viele auf dieser Geige. Ein paar farbige Exoten machen
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