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Heimat

Heimat

Titel: Heimat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verena Schmitt-Roschmann
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schon nicht Germanistik, dann kirchliche Bücher, das war nun ihr Ziel, und sie war schon ziemlich nah dran.

    Im Frühjahr 1961 wechselte sie für ihr letztes Semester an das kirchliche Sprachenkonvikt in Ostberlin, das immer noch als Zweigstelle einer Hochschule in Zehlendorf, im Westteil der Stadt, funktionierte. »Es herrschte ein freier Geist, das war freies Studieren, es war einfach wunderbar.« Die Sekretärin peppelte die magere junge Frau aus dem Osten mit Kondensmilch auf. »Jeden Morgen bekam ich eine Dose ‚Libbys’ Milch. Sie gab sie mir und sagte: Und jetzt viel Spaß! Das war atemberaubend, diese Freundlichkeit.« Ende Juni fuhr sie in die Ferien nach Hause. Dann kam der Mauerbau am 13. August 1961, und die junge Studentin schlitterte in einen Zusammenbruch. »Ich habe das nicht verkraftet«, sagt sie im Rückblick. »Ich habe nur immer von der Mauer und dem Stacheldraht geträumt, bin schweißgebadet aufgewacht. Ich konnte vor lauter Traurigkeit gar nicht mehr denken.« Ein halbes Jahr brauchte sie, um sich zu erholen. Dann machte sie doch noch ihr erstes
theologisches Examen. Und tatsächlich klappte es auch mit der Stelle im evangelischen Verlag.

    Die Erschütterung aber wirkte noch lange nach. Sie sang dagegen an. Auf eine Zeitungsannonce hin meldete sie sich bei der neu gegründeten Berliner Domkantorei und sang zehn Jahre mit. Dort lernte sie Jörg und Regine Hildebrandt kennen, die viel, viel später brandenburgische Sozialministerin werden sollte. Mit Jörg Hildebrandt arbeitete Christine Müller-Stosch jahrzehntelang im Verlag zusammen. Und »über viele Umwege« fand sie 1972 über den Freundeskreis im Chor auch ihre Freundin Erika Stürmer-Alex, die sich seit Anfang der 60er-Jahre als Malerin und Bildhauerin einen Namen machte. »Wir haben uns zusammengetan, wir haben versucht zu überleben, geistig, moralisch, seelisch«, sagt Müller-Stosch über die nun seit Jahrzehnten währende Partnerschaft. »Wir haben uns gegenseitig gestärkt.«

    Wenn es mal eine Chance gab für die beiden jungen Frauen, in der DDR anzukommen und von der Staatsmacht unbehelligt ein kleines privates Leben zu leben, dann war sie Mitte der 70er-Jahre wohl entschwunden. Stürmer-Alex hatte sich zwischen Schwedt und Frankfurt an der Oder ein kleines Fischerhaus gekauft, wo sie im Sommer Malkurse gab und Freunde einlud, Theater spielte und feierte. Müller-Stosch nennt das »eine kleine Universität«, in der sich junge Leute wie ihre Kinder um sie sammelten. »Es ging nicht nur ums Malen und Zeichnen, es ging um das ganze Leben«, sagt sie heute. »Das Blicken über den Tellerrand, das haben sie bei uns gefunden.«

    Die Staatsmacht sah das ähnlich, nur weit weniger begeistert. Die Staatssicherheit hielt es schon bald für geboten, einen »OV Atelier« anzulegen, begründet durch den »dringenden Verdacht, dass die … und Alex-Stürmer gemäß §106 StGB die verfassungsmäßigen Grundlagen der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR angreifen bzw. gegen sie aufwiegeln«, wie es in der teilweise geschwärzten Stasi-Akte der Künstlerin heißt. Der Verdacht ergebe sich unter anderem »aus der Persönlichkeit der … und Alex-Stürmer«, deren Handlungen in »Beeinträchtigungen in der Durchsetzung der sozialistischen Kunstund Kulturpolitik« münden könnten. Der Staatsapparat nahm sich deshalb »Beweisführung und Dokumentation der von den Verdächtigten begangenen bzw. geplanten Handlungen gemäß §106 Abs.1 und 2« vor
sowie die »Zersetzung der losen Gruppierung«. Fortan hatte es die kleine Künstler-Kommune mit »IM Klaus« zu tun, einem hageren jungen Mann mit schmalem Oberlippenbärtchen, den Müller-Stosch noch auf alten Bildern präsentieren kann. Die enthusiastischen jungen Künstler vom Oder-Haus wurden bisweilen sogar auf dem Privatgrundstück gefilzt und durften bald draußen am Deich nicht mehr malen - angeblich wegen Sicherheitsbedenken an der Staatsgrenze zu Polen.

    Anfang der 80er-Jahre hatte Stürmer-Alex genug. Sie entdeckte nicht allzu weit entfernt im Oderbruch ein altes Gehöft, halb zerfallen schon, einsam und freistehend. Das Haus an der Oder verkaufte sie und machte sich mit Müller-Stosch daran, den »Kunsthof Lietzen« bewohnbar zu machen - während die örtlichen Behörden sich den Kopf zerbrachen, ob und wie sie den Erwerb der Ruine durch die Unruhestifterinnen noch verhindern könnten. 1982 ließen sie ihn dann doch zu. Danach trafen sich die »Kinder« dort zu den

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