Heimat
DDR-Identitätssuche nicht spurlos an den Menschen vorbeiging. Jan-Hendrik Olbertz spricht von einer Schicksalsgemeinschaft, von einem »Wir-Gefühl des gemeinsamen Ausgeliefertseins einem System gegenüber, das ja wirklich nur wenige ehrlichen Herzens bejaht haben«. Friedrich Schorlemmer beschreibt es so: »In der DDR herrschte ein Legitimations- und Identifikationsdefizit und gleichzeitig ein geschichtsmetaphysisch überhöhter Identifikationszwang, dem sich viele auch aus Überzeugung unterwarfen.« Jahrzehntelang sollte man nicht Deutscher sein, sondern DDR-Bürger. »Jetzt darf ich auch offiziell Deutscher sein und merke doch, in wie vielfacher Weise ich ‚DDR-Bürger’ geblieben bin. So entsteht eine merkwürdige nachträgliche Identifikation mit der glücklich überwundenen DDR, genau in dem
Maße, in dem man ihr in der öffentlichen Debatte fast nichts Gutes mehr zugestehen mochte.« 184
Gerade für die Oppositionellen und die dem System Entfremdeten, für die die Vereinigung das Ende jahrelanger Isolation hätte sein können, war dies eine verwirrende und schmerzliche Erfahrung.
2. Das richtige Leben im falschen: »Die Heimat ist mir unter den Füßen weggezogen worden«
Es war schon einige Zeit, nachdem der Job weg war, die Stelle als Lektorin in der Evangelischen Verlagsanstalt in Ostberlin. Christine Müller-Stosch ging als eine der letzten, Gründonnerstag 1991. Seitdem verschlug es sie nur noch selten in ihr altes Revier um das Bonhoeffer-Haus hinter dem Friedrichstadtpalast, wo sie 25 Jahre lang gearbeitet hatte. Sie stand, seit langem zum ersten Mal, am Bahnhof Friedrichstraße. Und weinte.
Denn die Straßenbahn, die immer die Planckstraße heruntergerattert war in Richtung Pergamon-Museum, fuhr plötzlich anders, bog erst eine Ecke weiter ab zur Universität. »Da stand ich, tränenüberströmt, ich konnte mich gar nicht fassen«, sagt sie. Es war nur eine Nichtigkeit. »Wieso stehe ich da und breche in Tränen aus?« 185 Noch heute ist sie erstaunt, dass sich der ganze aufgestaute Wust, die Spannung der Wendemonate ausgerechnet diesen Notausgang suchten. »Ich habe mich nicht mehr zurechtgefunden. Es ist so vieles neu geworden. Das war zu viel.«
Es war nur ein Mosaiksteinchen, ein Mauersplitter aus jener wirren Zeit, wie die Geschichte ihrer Kollegin, der Justiziarin im Verlag. Müller-Stosch nennt sie eine handfeste, taffe Frau. Unerschütterlich, könnte man sagen, bis zu dem Zeitpunkt, als sie im Westen an einer Telefonzelle scheiterte. Sie fand einfach nicht den Schlitz, in den die Zehner müssen, diesen seltsamen alten Münzschieber aus der Zeit, als Automaten überhaupt noch reales Geld schluckten. »Es war so beschämend«, meint Müller-Stosch. Wäre es in Italien gewesen oder
in Amerika, na gut, da ist natürlich alles fremd. Aber nicht zuhause. »Es hieß immer: Wir sind Deutschland. Und dann so was. Das hat Symbolcharakter.«
Symbole. Wie die Konsumläden, die nichts mehr anzubieten hatten und bald von den Aldis und Pennys weggedrückt wurden, die verschwundenen Spreewaldgurken, die Invasion der Maggi-Tüten und der westdeutschen Gebrauchtwagen, die westdeutschen Formulare und Steuervordrucke und Bürokraten, viel später dann die Neuauflage des alten Spee-Waschmittels, das - da ist sich Müller-Stosch sicher - nicht mehr die alte Ostformel hat, denn beim Waschen mit der Hand springt die Haut nicht mehr auf. Es ist ein als Ost-Spee camoufliertes West-Spee, verantwortet von einem Großkonzern in Düsseldorf. Es ist besser denn je, aber doch nicht mehr Spee. All das und noch viel mehr: Oberflächliches über einem tiefen Bruch. »Es ist mir regelrecht die Heimat unter den Füßen weggezogen worden«, sagt Christine Müller-Stosch.
Es ist nicht Ostalgie, die die 71-Jährige umtreibt, das wäre zu einfach. Sie sitzt in ihrer kleinen Wohnung im Berliner Prenzlauer Berg, ein sonniger Neubau, nicht pompös, aber praktisch, hinter dem Wohnzimmer ist ein winziger Schlafraum mit einer Schiebetür abgetrennt. Auf einem Tischchen ein Laptop, an den Wänden selbstgemalte Bilder. In einer karierten Hemdbluse, mit kurzen grauen Haaren und intensiven Augen, eine herzliche ältere Frau, belesen, gebildet, geduldig. Während sie ihre Geschichte erzählt, hält sie manchmal inne. »Das ist jetzt sehr viel«, sagt sie mitfühlend. »Sie müssen mich stoppen, wenn es zu viel wird, ich bin immer so uferlos.« Aber es ist eben ein uferloses Leben, das sich da auftut, ein Leben jenseits simpler
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