Heimat
Wahrheiten - in der DDR, gegen die DDR, und nun, ironischerweise, mit der DDR gefangen in später, unfreiwilliger Solidarität. Dort damals heimatlos und jetzt wieder. Und doch auch fest verwurzelt in einer eigenen kleinen Welt.
Geboren 1938 in einem schlesischen Dörfchen, wo ihr Vater seine erste Pfarrstelle hatte, floh die kleine Christine im Februar 1945 mit der Mutter und dem sechs Jahre jüngeren Bruder nach Westen. Der Treck, den eine Adelsfamilie führte, ging weiter nach Bayern. Die Müllers aber blieben in Thüringen, weil der kleine Bruder nach der Planwagenreise durch die Eiseskälte schwer krank war. »Er hat nur überlebt, weil unsere
Mutter Übermenschliches geleistet und alles richtig gemacht hat«, weiß Christine Müller-Stosch heute. Pastor Müller, der als Wehrmachtssoldat kurz vor Stalingrad dank einer »lebensrettenden Malaria« ausgeflogen worden war, spürte seine Familie auf und übernahm gleich die örtliche Pfarrstelle, denn der thüringische Pastor war im Krieg umgekommen. »Wo Gott mich hingestellt hat, da soll ich bleiben«, nahm er sich vor.
Doch es ging nicht lange gut. Der neue Pfarrer legte sich mit der Gemeinde an. Seine Tochter macht heute Nazi-Seilschaften der Deutschen Christen in Thüringen dafür verantwortlich. »Er fand das alles furchtbar.« 1949 siedelte die Familie über nach Aschersleben im heutigen Sachsen-Anhalt. »Da waren wir dann, da blieben wir auch«, erinnert sich Müller-Stosch. Es klingt verzagt. »Ich habe immer so Heimweh gehabt.« Es ist nicht ganz klar wonach. Vielleicht einfach nur nach einem weniger feindseligen Ort.
Das kleine Mädchen war schwerhörig, das ist für sie im Rückblick ein wichtiger Punkt. Schwerhörig und empfindsam, leicht zu erschüttern mit kleinen Boshaftigkeiten. Einmal verleitete sie ein viel größerer Junge dazu, bei Eiseskälte an einem Stahlgeländer zu lecken. Festgefroren stand sie und gebückt, umringt von hämisch lachenden Kindern. Die blutige Zunge schmerzte weniger als die Erniedrigung. Schlimmer noch ausgegrenzt fühlte sie sich aber wegen des Berufs ihres Vaters, als Teil einer »Kaste, die man im Land zwar gerade noch duldete, jedoch nicht noch zu selbstständig denkenden Leuten weiterbilden wollte«, wie sie in einem kleinen autobiografischen Text schreibt. Mit 14 wurde sie in der Schule vor eine Kommission geladen, die sie ausquetschte, warum sie nicht bei den Jungen Pionieren gewesen war und ob sie denn nun wenigstens in die FDJ eintreten würde. »Ungehobelte engstirnige Männer mit einem Feindbild im Kopf, denen aufgetragen war, die Spreu vom Weizen zu trennen«, wie sie sich erinnert. Am Ende saß die Pastorentochter weinend da, weil sie nicht auf die Oberschule gehen sollte: »Mein größtes Ziel war Lernen, und ich durfte nicht lernen. Ich war einfach Staatsfeind von vorneherein.«
Das junge Mädchen und ihre Familie versuchten fast alles, doch noch irgendwo eine Chance auf die ersehnte Bildung aufzutreiben. Die erste Station war ein kirchliches Mädchenheim bei Magdeburg, das allerdings nicht viel bot als Strenge und Hauswirtschaft, die Kinder
lernten Ziegenmelken und Wäschewaschen, bisweilen halfen sie in einem Säuglingsheim aus und fütterten die Babys. Schließlich hörten Christines Eltern von einer kirchlichen Oberschule in Westberlin. 1954, die Mauer gab es noch nicht, zog sie dort in ein katholisches Kloster und begann in Reinickendorf an der Bertha-von-Suttner-Oberschule. Zwei Jahre biss sie sich durch, dann wurde sie krank. »Ich war einfach ein Kind, das zuhause hätte wohnen müssen«, sagt sie. »Ich bin dann wieder nach Hause gegangen, weil ich es psychisch nicht durchgehalten habe.«
Inzwischen hatte die evangelische Kirche in Naumburg eine eigene Oberschule gegründet, genannt »Proseminar«, wo Christine mit ihren nun schon 18 Jahren 1956 anfing - drei Jahre Latein, Griechisch, Deutsch, Geschichte, ein »freier Raum«, freies Denken. »Ich habe von früh bis abends gelernt«, sagt sie heute. »Das war meine glücklichste Zeit.« Eigentlich wollte sie danach Germanistik studieren. »Aber mir war klar, dass ich das aus politischen Gründen gar nicht machen kann, weil ich gar nicht gewöhnt bin, mich so anzupassen.« Pfarrerin kam für sie als Beruf nicht in Frage, weil sie zu schlecht hörte. Trotzdem begann sie 1959 ein Studium an der theologischen Hochschule in Naumburg. Schon zu Beginn tastete sie bei der Evangelischen Verlagsanstalt vor, die ein Freund ihres Vaters leitete. Wenn
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