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Heimat

Heimat

Titel: Heimat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verena Schmitt-Roschmann
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Wirtschaft. Im Verlauf des Jahres 1990 halbierte sich die Industrieproduktion, Anfang 1991 lag sie nur noch bei einem Drittel des Volumens vor der Währungsunion. Experten sprachen von einer weltweit beispiellosen Depression. Die Arbeitslosenquote stieg binnen eines Jahres von praktisch null auf 25 Prozent. Eingerechnet jene, die in den Vorruhestand gingen, in den Westen übersiedelten oder aus der Statistik fielen, halbierte sich die Zahl der Erwerbstätigen: von etwa 9,7 Millionen auf weniger als fünf Millionen im Frühjahr 1992. 188 Wer noch Arbeit hatte, sorgte sich, dass er bald der nächste sein könnte. 1991 sagte jeder zweite Ostdeutsche, er rechne mit dem Arbeitsplatzverlust in nächster Zukunft - eine Furcht, die den Arbeitnehmern in den alten Bundesländern zu der Zeit praktisch unbekannt war: Dort rechneten ganze vier Prozent für die nächste Zeit mit einem Arbeitsplatzverlust. 189

    Es kamen die McKinsey-Berater, um DDR-Kombinate abzuwickeln, und die Aufbauhelfer aus Nordrhein-Westfalen, um die Verwaltung umzukrempeln. Mit ihnen kam ein Kulturschock. Es fing beim Händeschütteln an - wer in der DDR morgens die Kollegen begrüßte, gab ihnen ganz selbstverständlich die Hand, was in Westdeutschland unbekannt war - und hörte beim Selbstverständnis der Leistungsgesellschaft auf, wo die Ostdeutschen nun ohne Mucks westdeutsche Chefs akzeptieren und von jetzt auf gleich die Ellenbogen ausfahren sollten.

    Das eigentlich Ungewöhnliche war dabei nicht, dass sich Menschen umstellen und an etwas Neues gewöhnen mussten. Es war die Invasion der neuen Regeln und die handstrichartige Entwertung der alten: Die eigene kulturelle Tradition galt nichts mehr auf dem eigenen Territorium. »Während des Aufbaus Ost waren die kulturellen Rollen zwischen Einheimischen und Fremden vertauscht«, schreibt Thomas Ahbe. »Das Paradoxe während der Transformation im Osten war nun, dass die Fremden - also die westdeutschen Aufbauhelfer - im Besitz des wichtigen Wissens um die geschriebenen und ungeschriebenen Regeln waren, während das Wissen der Einheimischen zwar exklusiv - aber in der neuen Kultur recht wertlos war.«

    Weit später noch und schleichend verschwanden die äußeren Aspekte der Heimat: die Gerüche, die Ansicht der Städte und Landschaften. Noch kurz vor der Wende zeigten sich die einst prächtigen Jugendstilbauten der Christburger Straße im Berliner Prenzlauer Berg mit pockennarbigen, zerfledderten Fassaden, rußgeschwärzt, hinter kümmerlichen, neu gepflanzten Straßenbäumchen. Von alten Bildern quillt quasi der schwere schwefelige Qualm der Ofenheizungen und der blaue Dunst der Trabbis, die in Reih und Glied die Straße säumen, so weit das Auge reicht. 20 Jahre später ist dieselbe Straße ein Traum in Bonbonfarben, die Straßenbäume prächtig, der Rand gesäumt von BMW-Cabrios und Minivans. Selbst die Richtung der Quer- und Längsparkplätze ist einmal von der rechten zur linken Straßenseite getauscht. 190 Es ist schön, wunderschön westdeutsch, urgemütlich für die aus der Bonner Südstadt zugezogenen Ministerialdirektoren und Journalisten und die Hamburger Modedesigner. Wunderschön vielleicht auch für die Ostberliner, die sich die Mietsprünge im neuen In-Viertel leisten konnten und nun womöglich ebenfalls froh sind über die Latte-Macchiato-Stationen am Kollwitzplatz. Schön, aber eben völlig anders als die in der eigenen Biografie unauslöschlich verankerten Bilder. »Das Bühnenbild ist verschwunden«, sagt Jan-Hendrik Olbertz. »Im Westen spielt im alten Bühnenbild die neue Geschichte und es wird dies und das getauscht. Die Ausstattung einer Ostkindheit ist komplett abgebaut worden und im Magazin. Es ist etwas Neues auf der Bühne gebaut worden, auf der sich aber die gleichen Menschen bewegen.« 191

    Dass die Bonner Politik über die Brüche hinwegbügelte und die quasi selbstverständliche Einheit der Nation predigte, dass die westdeutsche
Mehrheit dem Verlustgefühl der »Jammer-Ossis« mit völligem Unverständnis gegenüberstand, verstärkte nur die Distanz. Die Lern- und Anpassungsleistung, das Verschwinden des Ostdeutschen in Ostdeutschland wurde nicht anerkannt. »Es hat uns nicht gegeben, wir waren gar nicht da, wir waren nicht am Leben, wir lagen im Koma«, dichtete Ulrich Plenzdorf 1994. »Wir lagen meist daneben, wir hatten nichts als Frust, wir waren nicht am Leben, wir ham’s bloß nicht gewusst.« Bis heute ist der Heimatverlust von Millionen, denen das Gewohnte und

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