Heimat
Sommermalwochen, eine bunte Truppe, die Frauen in großkarierten Flanellhemden, die Männer mit dichten Vollbärten und kraftstrotzenden nackten Oberkörpern. Sie spielten Theater in der Scheune und errichteten im Hof Plastiken aus Strohballen, sie flöteten und sangen und malten und kochten und badeten im halb verlandeten Teich, verbuddelten sich gegenseitig im Lehm, alles vielfach geknipst und gemalt und gefilmt auf Super-8.
»Als ich das Tor zum Hof öffnete, überwältigte mich die Energie und Lebensfreude der Menschen, die dort lebten und arbeiteten«, erinnerte sich später Anne Nadja Kaiser, die als 18-Jährige zum ersten Mal auf den Kunsthof Lietzen kam. »Dieser Ort wurde für mich in den Jahren der DDR-Zeit größer als das Land, in dem ich lebte.« Auch für Christine Müller-Stosch wurde nach all den Jahren der Isolation und der Angst und des Ausgegrenztfühlens dieser alte bröckelnde Hof schließlich zur Heimat. »Ja«, bestätigt sie. »Erika hat immer gesagt: Freistaat Lietzen. Es war das Gefühl, in einer anderen Welt zu sein, in der man frei denken kann, so viel Lachen, so viel innere Freiheit, Zusammengehörigkeit.« Es war das »richtige Leben im falschen«, geistige Lebendigkeit inmitten grauer Stagnation, so sieht sie das im Nachhinein.
Nur, als das falsche Leben zusammenbrach, der Stasi-Staat in
rasender Geschwindigkeit geschluckt wurde vom großen bunten Westen, da war es plötzlich auch mit der kleinen Nische im Beton vorbei. Erika Stürmer-Alex hatte es zum ersten Mal mit einem freien Kunstmarkt zu tun, so dass das Überleben nun die meisten Kräfte band. Christine Müller-Stosch konnte im Frühjahr 1990 zuschauen, wie ihr Verlag dem Untergang entgegendriftete. »Heute hat der Noch-Chef meines Verlages mit mir gesprochen«, notiert sie am 6. Juli 1990 in ihr Tagebuch. »Entweder U. oder ich können als volle Kraft dableiben.« Sie spürte wieder Angst, sie kämpfte dagegen und hoffte, dass mit ihr einige noch erkennen, »was wirklich wichtig ist, und vom Vergleichen, Bewerten, Jammern wegkommen, sich nicht dort mit einklinken, wo verbissene Gesichter und kleinliche Wünsche sind.«
Befremdet beobachtete sie die Geldwechsler am Bahnhof Friedrichstraße und die neuen Imbissstände, vor denen sich nun Trauben von DDR-Bürgern schichteten. »Ich rege mich auf über Dumpfheit, dumpfes Trotten und Rennen nach Cola um den hohen Preis von Müllbergen und Verlust der Identität«, heißt es an einer anderen Stelle in ihrem Tagebuch. Sie ahnte schon, dass es schwer wird für sie im neuen »Germoney«. »Was mache ich wirklich mit meinen Erfahrungen in der DDR, wenn doch dieses Land den Bach runtergeht, die BRD-Politiker uns immer wieder predigen, was wir alles noch zu lernen haben, was wir alles falsch gemacht haben«, schreibt sie zwei Monate vor der Vereinigung. »Wir sind Fremde im eigenen Land geworden, Statisten eines Gesellschaftsspiels, dessen Ende offen ist.«
Und sie zitiert Jürgen Rennert:
»Mein Land ist mir zerfallen,
Sein’ Macht ist abgetan,
Ich hebe, gegen allen Verstand,
zu klagen an.«
Etwa zur gleichen Zeit tauchten in Lietzen die ehemaligen westdeutschen Besitzer auf. In »drei großen Westschlitten« rückten sie an, zunächst, um in einer surrealen Aktion an einer Hausecke zu Kriegszeiten vergrabenes Geschirr zu bergen und vor den verdutzten Bewohnern ungebetene Kommentare abzugeben: »Sie haben ja 40
Jahre umsonst gelebt«, dozierten sie. Und: »Sie müssen alle noch viel lernen.« Später versuchten sie wohl auch, den 1982 vom Staat an Stürmer-Alex verkauften Besitz zurückzubekommen. Fünf Jahre bangten die Frauen um ihren »Freistaat Lietzen«, der sich ohnehin erheblich verändert hatte.
Ein Teil der ehemaligen Sommer-Kinder fing noch an zu studieren, viele hatten nun reichlich mit sich selbst zu tun. Und Müller-Stosch, die im Frühjahr 1991 den Verlag endgültig verlassen musste, suchte im Alter von 52 Jahren einen neuen Beruf. »Es war klar, ich muss noch was machen«, erinnert sie sich. Mit mehreren Bekannten gründete sie auf dem Gehöft den »Frauenarbeitskreis Lietzen« als »Projekt für Frauen in der Lebensmitte«. Brandenburg gab Fördermittel. In kurzen Seminaren versuchten sie, Frauen mit Kunst und Gesprächen Rat und Richtung zu geben. Nach vier Jahren war Schluss, es gab kein Geld mehr vom Land. Noch einmal versuchte Christine Müller-Stosch in irgendeinem Verlag unterzukommen, als Lektorin, Korrektorin, Assistentin. Aber es war nichts zu
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