Heimat
machen. Es blieb nur das Arbeitsamt und dann die Rente. »Um nach der Wende ganz neu anzufangen, war es für mich zu spät«, sagt sie.
Mit 620 Euro Rente sollte sie klarkommen. Damit war die Wohnung, die sie in der Wendezeit endlich ergattert hatte, die erste mit Bad und Zentralheizung, nicht zu halten. Das Haus ging an einen westdeutschen Investor und die Rentnerin musste raus. Noch ein Heimatverlust. Müller-Stosch war drauf und dran, sich wieder eine billige Wohnung mit Ofenheizung zu suchen, wie sie sie in ihrer gesamten DDR-Zeit hatte, mit Eisblumen an den Fenstern des Außenklos, mit Atemnebel im Wohnzimmer, bevor der Ofen richtig zieht. Schließlich tat sich jedoch an ganz unerwarteter Stelle ein Türchen auf: Ihr Neffe war nach der Wende in den USA zu Geld gekommen und suchte ein Investment. Die Schwägerin riet ihrem Sohn, eine Wohnung in Berlin zu kaufen, für die Tante als verlässliche Mieterin. »Ich habe Glück«, sagt sie, »ich habe eine tolle Familie.« Es klingt nur noch ganz entfernt ein Hauch von Bitterkeit durch.
Sie kann sich immer noch maßlos ärgern über dieses System, das Lebenserfahrung sinnlos auf den Misthaufen wirft, über die Besserwessis, die in der Ausstellung »60 Jahre, 60 Werke« eine
ganze Generation guter und unangepasster DDR-Künstler beiseite wischten, über das sinnlose Gerenne nach Geld und Macht, über peinliche Selbstanpreisung auf dem Jahrmarkt der Karrieristen. »Vom Ökonomischen her lehne ich diese Gesellschaft ab«, sagt sie strikt. »Aber ich bin dankbar für die Demokratie, ich bin jeden Tag dankbar, dass ich Demokratie erleben darf, wir sind absolut privilegiert.« Es klingt, 20 Jahre nach der Wende, wie ein Anfang.
So außergewöhnlich die Geschichte der Christine Müller-Stosch ist mit all ihren Brüchen und Aufbrüchen, der Verlorenheit und dem Glück, das sie trotz allem ausstrahlt - die Erfahrung des Heimatverlusts nach der Wende teilten in der ehemaligen DDR Hunderttausende. »Ich habe meine Heimat verloren, dieses graue, enge, hässliche Land«, schrieb der Regisseur Konrad Weiß erstaunlicherweise schon wenige Wochen nach dem Mauerfall im Februar 1990. »Dieses schöne Land, die Sommer in Mecklenburg voller Weite und Vogelgesang und Grün, die Winter im Vogtland mit den Kindern im Schnee. Und das dreckige, betonierte, stinkende, dröhnende, das lebendige, tapfere, stille Berlin.«
Zu einer Zeit, als runde Tische den demokratischen Aufbruch probten, als Bürgerrechtler Weiß nach Jahren untergründiger Opposition selbst erstmals aktiv Politik machen konnte, als alle den ersten freien Volkskammerwahlen im März 1990 entgegenfieberten und noch nicht einmal die Währungsunion spruchreif war, nahm der Filmemacher bereits endgültig Abschied. »In diesem Land bin ich aufgewachsen, es war das Land meiner ersten Liebe, das Land meiner Träume, das Land meines Zorns. Es war das Land meiner Kinder, und es sollte das Land meiner geborenen und noch ungeborenen Enkel sein. Nun wird es mir unter den Füßen weggezogen. Meine Hoffnung verdorrt und meine Träume sterben. Ich werde zum Emigranten gemacht im eigenen Land.« Mit beeindruckender Klarsicht beschrieb er, was nun folgen sollte: »Nun stürmt ein raues, grelles, hemdsärmeliges Vaterland auf uns ein. Es lässt uns keinen Ausweg, wir können uns seiner nicht erwehren.« Er ahnte, dass die eigenen politischen Skizzen und Entwürfe bereits Makulatur waren. Man werde eine »fremde, mittelmäßige Arbeit kopieren« müssen. 186
Die meisten Ostdeutschen nahmen den von Weiß so eloquent beschriebenen Verlust erst später wahr. Der erste große Bruch kam am 1. Juli mit der so genannten Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. In den Tagen, bevor die D-Mark offizielle Währung der DDR werden sollte, gähnten in ostdeutschen Kaufhallen leere Regale die Kunden an. Mit dem Tag der Währungsumstellung brach dagegen eine völlig neue, westdeutsche Warenwelt über die Käufer herein. Bereits im September 1990 waren viele ostdeutsche Produkte fast vollständig verschwunden. So hatten westdeutsche Firmen zum Beispiel bis dahin 96 Prozent des Markts für Röstkaffee unter sich aufgeteilt, selbst Speisefett kam zu drei Vierteln aus dem Westen. 187 Wenig später verschwanden wichtige Symbole der inzwischen aufgelösten DDR. Die Pieck-Straßen und Thälmann-Plätze, die Marx-Statuen und Lenin-Büsten - ausrangiert, abmontiert, auf die Halde damit.
Für die meisten rasch spürbar war der rasante Verfall der ostdeutschen
Weitere Kostenlose Bücher