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Heimat

Heimat

Titel: Heimat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verena Schmitt-Roschmann
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faszinierend, wie die das schaffen, die Droge zu organisieren, auf eine illegale Art und Weise.«

    Das Mittel der Wahl für die 15- bis 22-Jährigen ist Tilidin, ein
starkes Schmerzmittel, das betäubt und enthemmt. Die Dealer verschaffen sich die Tropfen mit gefälschten Rezepten, die sie sich mit Hilfe von Scannern und Kopierern zurechtfriemeln. »Die Apotheker raffen’s ja nicht, die werden sozusagen verarscht«, meint Sahin. Die Flüssigkeit wird oft mit Wasser gestreckt und in kleinen Portionen weiter verkauft - »fünf Milli für fünf Euro, zehn Milli für zehn Euro«, ein billiger Kick, der sehr schnell abhängig macht und vor allem die Gewaltschwelle senkt: Schlägereien garantiert schmerzfrei.

    Früher war Sahin nach eigenen Worten auch »kein Engel«. Mit seinen Freunden geriet er in Disko-Prügeleien und Straßenpöbeleien - aber nichts wirklich Ernstes, versichert er. »Wir waren keine Gang. Wir waren einfach Freunde, die füreinander da waren.« Inzwischen jobbt er als Honorarkraft im Kinder- und Elternzentrum »Am Tower«, organisiert mit den Jungen und Mädchen Lagerfeuer oder Faschingsfeten. Sein großer Traum wäre, Erzieher oder Sozialarbeiter zu werden. Aber er sagt, er sei ja »schulisch nicht so begabt«. Für die Ausbildung müsste er »den Real« machen oder das Fachabi, und das klingt dann gleich wieder unendlich schwierig. Seit seine Lehre als Koch flach fiel, hat er sich von der Idee eines richtigen Berufs verabschiedet. »Lieber gleich arbeiten«, hat er sich gedacht. Er war schon Wachmann und Streetworker und Friedhofsgärtner. Irgendwie findet sich immer was. »Es geht schon«, meint Sahin. Nur »der Preis« stimme oft nicht.

    Deshalb ist auch nicht klar, wann er seinen anderen großen Traum wahr machen kann: einfach hier weg. Weil seine Familie aus der Türkei stammt, träumt er von der alten Heimat. Er ist sich auch völlig sicher, dass er dorthin gehört. »Da ist die Luft ganz anders, das Leben ist ganz anders.« Vielleicht Istanbul. Oder auch das Gegenteil: nicht die Heimat, sondern ganz woanders hin. »Wohin der Wind mich treibt, einfach von Land zu Land, keine Arbeit, kein nichts - einfach sehen, wie die Leute leben.« Dann fällt ihm noch was ein: »Ich will auch mal auf einen Berg steigen. Waren Sie schon mal auf der Zugspitze? Kein Türke, den ich kenne, war jemals auf der Zugspitze. Das muss toll sein da oben, mit der Luft und dem geilen Blick.«

    Draußen vor der Tür wartet erstmal der weite Blick über das riesige Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof. Der Betrieb wurde Ende 2008 eingestellt, nach zwölf Jahren heftiger Auseinandersetzungen in
der Berliner Lokalpolitik. Während sich Zehlendorfer Honoratioren für den Erhalt des Symbols der Luftbrücke von 1948 einsetzten und sogar einen Volksentscheid organisierten, beschworen viele Anwohner rund um die Oderstraße den Senat, bei der 1996 verkündeten Schließung zu bleiben. Hier lag die Einflugschneise, die Maschinen rauschten direkt über die Neuköllner Häuser und einen kleinen grünen Streifen zweier evangelischer Friedhöfe. Zwischen den Grabsteinen stehen bis heute die Positionslampen.

    Gleich hinter der letzten Leuchte sitzt Mona Schmidt. Ziemlich überraschend meint sie: »Ich hadere mit der Schließung von Tempelhof.« Vielleicht, weil es so erschreckend still bei ihr geworden ist.

    Mona Schmidt betreibt mit ihrem Vater seit 32 Jahren den »einzigen Scherzartikelladen auf einem Friedhof«, wie sie sagt. Dahinter steckt eine dieser Kalter-Krieg-Geschichten. Der »Zauberkönig seit 1884« war mal an der Ostberliner Friedrichstraße und musste 1952 Knall auf Fall in den Westteil umziehen. Ausgerechnet auf einem Eckchen an der Hermannstraße, das schon zum Kirchhof gehörte, fand sich eine Pachtstelle, auf der die damalige Ladenbesitzerin eine kleine Baracke baute. Heute gibt es dort eklig-echte braune Hundehäufchenattrappen, bei Bedarf auch als Aschenbecher gestaltet, und einen Plastikbusen für 22 Euro. Eine »Spinne behaart, braun, groß« ist für 1,50 Euro zu haben, das Paar Kakerlaken für 2,75. Die »Schokolinsen mit Paprika« haben die letzten Jahre im Schaufenster allerdings nicht gut überstanden. Die Sonne hat sie zu einem unförmigen weißen Klumpen zusammengebacken.

    »Ich muss mir langsam was überlegen«, meint die Ladenbesitzerin in ihrem modrig riechenden Reich zwischen Klebebärten und Luftschlangensprays. »Wenn das so weiter geht, muss ich bald noch Geld mitbringen, um den Laden

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