Heimat
außer für den Obst- und Gemüsehandel, und es wird sich vermutlich auch keine Perspektive entwickeln«. Jenen, die angeblich »ständig neue Kopftuchmädchen«
produzieren, versagt Sarrazin ausdrücklich seine Anerkennung: »Das gilt für siebzig Prozent der türkischen und neunzig Prozent der arabischen Bevölkerung in Berlin. Viele von ihnen wollen keine Integration, sondern ihren Stiefel leben.« 268
Aus Sarrazins Behauptungen spricht Verachtung. Faktisch sind sie größtenteils falsch, wie die Berliner Politologin Naika Foroutan nachweist. Dennoch spiegelt die Debatte darüber eine Art Zeitgeist der Befremdung. »Auch hier ist das Gefühl des Unbehagens, der Angst vor ‚den Muslimen’ längst gesamtgesellschaftlicher Konsens - trotz politischer und wissenschaftlicher Bemühungen um Aufklärung«, schreibt Foroutan. 269 Erneut wirkt das Prinzip der Abgrenzung - von beiden Seiten. Aus scheinbar großer Entfernung blicken die Deutschen mit Schaudern auf unergründliche Krisengebiete mitten in der Heimat.
3. Auf dem Weg ins Nirgendwo: Ersatzheimat Neukölln
Eddi ist verschwunden. »Wir vermissen unseren französischen Bulldogrüden«, heißt es auf einem Zettel am Sicherheitsglas der Tür. Eddi ist sieben Jahre alt und »recht kräftig«. Für sachdienliche Hinweise gibt es einen Finderlohn. Garantiert. Außerdem erfährt man an dieser Tür, dass das »Herrfurth-Eck« eine Raucherkneipe ist. Der Genever kostet 90 Cent, ein Toilettenbesuch »ohne Verzehr« 50 Cent. Ein Schnaps ist billiger als zwei Mal pinkeln. So viel ist schon einmal geklärt.
Genau gegenüber an der anderen Straßenecke am Herrfurthplatz lockt der Hekimhan Kulturverein e.V. mit Hasseröder Pils. Im Fenster prangt das Banner des FC Malaty Spor Berlin Fan Club. Doch die Scheiben sind bis über Kopfhöhe eingeschliffen, nur schwach glimmen Neonleuchten oben aus einem Spalt in den trüben Nachmittag. Auch hier sind die Bedingungen klar: »Raucherclub nur für Mitglieder«.
Es ist die Natur von Parallelen, dass sie sich nie treffen. Jede Linie strebt für sich bis ins Unendliche.
Der Schiller-Kiez in Berlin Neukölln, gelegen zwischen der Hermannstraße und dem stillgelegten Flughafen Tempelhof, gehört sicher zu den Gebieten, die Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky im Hinterkopf hat, wenn er wortgewaltig die vielfältigen Probleme seines Stadtteils beklagt. Der Kiez ist nicht allzu weit entfernt von der Rütli-Schule, wo sich 2006 Lehrer mit einem verzweifelten Hilfeschrei an die Öffentlichkeit wandten, und auch nicht von der Albert-Schweitzer-Oberschule, die die Kunstlehrerin Ursula Rogg in ihrem »Frontbericht« namens »Nordneukölln« beschrieb. 270 Es ist ein Viertel, von dem Wohlmeinende ihren Freunden abraten. »Um Gottes willen, bloß nicht«, hörte auch die Autorin Angelika-Benedicta Hirsch, als sie in die Warthestraße ziehen wollte. »Mach das lieber nicht, ich habe von vielen gehört, dass es da ganz krass ist.« 271
Der Bezirk sah sich gezwungen, ein »Quartiersmanagement« einzurichten, das die Defizite akribisch katalogisiert hat. »Die Sozialstruktur ist als äußerst schwach zu bezeichnen«, schreiben die Sozialarbeiter in einem Arbeitspapier. »Mehr als die Hälfte der Haushalte lebt unterhalb der Armutsgrenze.« Der Anteil von Migranten liegt in dem Gebiet bei rund 52 Prozent, der Anteil von Kindern aus zugewanderten Familien bei 57 Prozent, in den öffentlichen Schulen Nordneuköllns sind es 80 Prozent. »Integrationsprobleme gibt es aufgrund fehlender beziehungsweise unzureichender Sprachkenntnisse und fehlender sozialer und nachbarschaftlicher Kontakte.« Der »Eindruck der Verwahrlosung« präge das Quartier, dazu die »oftmals alleinige Inanspruchnahme der Flächen durch problematische Nutzergruppen (Alkoholiker, Wohnungslose).«
Elisabeth Kruse kann das bestätigen, und sie sagt es weit weniger fachchinesisch verbrämt. 272 Die Tatsache, dass die Menschen hier bei Bedarf ihre ganze Wohnungseinrichtung auf die Straße schmeißen, die Lautstärke, die Rempeleien und der Hundedreck, all das kennt die Pfarrerin der Genezareth-Kirche auf dem Herrfurthplatz nur zu gut. Sie persönlich stört sich am meisten an den Betrunkenen auf den Bänken direkt vor der Grundschule. »Die Kinder wachsen hier auf, und hier pinkeln nicht nur Hunde an die Bäume, sondern auch Männer«, sagt Kruse. Selbst an die Ecken ihrer Kirche stellen sich die Besoffenen, weil sie sich die 50 Cent für das Klohäuschen nicht leisten
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