Heimat
gesellschaftlichen Entfremdung. Die durch Mehrheitsverhältnisse erzwungenen Kompromisse sowohl beim Staatsbürgerschaftsgesetz 2000 als auch beim Zuwanderungsgesetz 2005 offenbaren die Widersprüche und die Unentschlossenheit im Umgang mit den »Ausländern«. Mit dem neuen Gesetz zum Doppelpass wurde es kaum einfacher, die deutsche Staatsangehörigkeit zu erwerben, und die Einbürgerungszahlen gingen im folgenden Jahrzehnt deutlich zurück. Nach jahrelanger Debatte, ob Deutschland Einwanderer braucht und wenn ja welche, brachten die Volksparteien auch kein »Einwanderungsgesetz« zustande, sondern ein »Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung«. Immerhin zeigte es erstmals Ansätze zur Integrationsförderung, und mit diversen Integrationsgipfeln und der Islamkonferenz versuchte die Bundesregierung nun, die gesellschaftlichen Brüche zu heilen.
Die Geschichte des »missmutigen Einwanderungslands«, wie es Klaus Bade genannt hat, zeigt, wie lange die Deutschen und ihre Regierung versuchten, die Millionen Fremden schlicht zu ignorieren. In einem Land, das sich 200 Jahre lang mit Inbrunst dem Thema Heimat gewidmet hatte, spielte die Heimat der anderen erstaunlicherweise keine Rolle. Im Gegenteil: Die Selbstfindung und das ständige Kreisen um die eigene Identität machten die Heimat Deutschland besonders unzugänglich. Teil davon ist ein immer noch dominantes anachronistisches Blutsrecht, das nur Menschen mit deutschen Eltern automatisch als Deutsche definiert. Migrationsforscher Bade zieht das Fazit: »Die Akzeptanz des Wandels zur Einwanderungsgesellschaft wurde in Deutschland nicht nur durch Probleme der prekären nationalen und kulturellen Selbstbeschreibung, sondern auch durch eine säkulare ethno-nationale Tradition erschwert, in deren Zentrum die Vorstellung stand, Deutscher könne man nur sein, aber nicht werden.« 265
Der von den Deutschen hoch gehaltene Wunsch nach Zugehörigkeit, Vertrautheit, Geborgenheit erfüllte sich für die als solche definierten Fremden hier jedenfalls schwerlich. Als Problem wahrgenommen wurde dies, als sich große migrantische Exklaven in den Großstädten als fremdländische Ersatzheimaten etablierten. Die Islamdebatte in der Folge es 11. September 2001, der Kopftuchstreit, die Gewaltausbrüche in anderen europäischen Ländern wie Frankreich
und den Niederlanden, lenkten nach der Jahrtausendwende auch in Deutschland den Blick auf so genannte Parallelgesellschaften angeblich integrationsunwilliger und -unfähiger muslimischer Migranten in Köln, Hamburg oder Berlin.
Zehntausende, die bei Bildungs-, Ausbildungs- und Erwerbschancen von der Mehrheitsgesellschaft abgekoppelt sind, können dank eigener Infrastruktur wie Läden und Kulturvereinen und dank einfacher Verbindung mit der früheren Heimat über Massenmedien und Massentourismus ihre Eigenständigkeit pflegen. Ehepartner werden ebenso »importiert« wie immer neue Sprachprobleme. »Manchmal werden heutige Migranten als transnationale Bürger beschrieben, Bürger also, die in verschiedenen Gesellschaften gleichzeitig leben«, schreibt der Soziologe Paul Scheffer. »Früher war Immigration ein Abschied für immer, heute pendelt man, und sei es auch nur in mentaler Hinsicht.« 266 Der Rückzug in Ghettos biete emotionale Sicherheit.
Tatsächlich scheinen die Kluften zwischen den seit Jahrzehnten nebeneinander lebenden Bevölkerungsteilen nicht zu schwinden, sondern tiefer zu werden. Alarmiert stellte der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble 2006 fest, dass »wir kaum Zuwanderung, aber wachsende Integrationsdefizite haben«, weil »ein Teil der Zuwanderer abgeschottet lebt« und »nicht genügend mit dem Rest der Gesellschaft kommuniziert«. 267
Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin benannte in einem umstrittenen Interview 2009 eine Hierarchie der Integration, bei der sich muslimische Gruppen am untersten Ende wieder fanden. Sorgen müssen sich die Deutschen demnach nicht um die Vietnamesen, die bereits in der zweiten Generation bessere Noten hätten als die Deutschen, und nicht die Osteuropäer, denn sie seien »integrationswillig, passen sich schnell an und haben überdurchschnittliche akademische Erfolge«. Auch die Ostasiaten, Chinesen und Inder seien unproblematisch, und die »osteuropäischen Juden« hätten einen um 15 Prozent höheren IQ als die deutsche Bevölkerung. Die Gruppe der Araber und Türken dagegen sei »absolut abfallend«. Eine große Zahl von ihnen habe »keine produktive Funktion,
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