Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Heimat

Heimat

Titel: Heimat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verena Schmitt-Roschmann
Vom Netzwerk:
können. »Das finde ich auch ein Stück würdelos.«

    Als sie 2004 hier ihre neue Stelle antrat, stand die evangelische Gemeinde am Scheideweg. Immer weniger Mitglieder in einem zunehmend muslimischen Viertel, der imposante verklinkerte Kirchenbau mit eingeschmissenen Scheiben und verwahrlost, der Kiez auf der Kippe. Den Mauerfall habe Neukölln nicht gut überstanden, meint die Pfarrerin. Die einst mit Steuervorteilen und Berlin-Zulagen gepäppelten Fabriken machten dicht, die Ungelernten und Angelernten fanden kaum etwas Neues und steuerten auf Stütze ins Nirgendwo. »Kriminelle Zustände« nisteten sich ein. Kruse weiß von einzelnen Häusern, wo Vermieter zehn, 20 Flüchtlinge in einem Raum zusammenpferchen, das Bett für 100 Euro im Monat. Andere lassen ihre Wohnungen leer stehen und verwahrlosen, in der Hoffnung, dass sie ganze Häuser ohne Mieter zu hohen Preisen verhökern können. Gewalt und Alkohol seien überall sichtbar. Im Sommer habe einer dem anderen eine abgeschlagene Bierflasche in den Bauch gerammt, und vor wenigen Wochen habe es hier vor der Kirche eine Schießerei gegeben. »Das ist schon nicht mehr lustig«, sagt die Pfarrerin.

    Alteingesessene und Zugewanderte regen sich übereinander auf. »Natürlich gibt es auch in meiner Gemeinde viele, die die Faxen dicke haben. Da macht man ein, zwei, drei Mal eine schlechte Erfahrung, und dann ist das erledigt. Und da kann ich bei manch einem Geburtstagsbesuch und bei manch einem Beerdigungsgespräch gegen ankämpfen. Aber ich denke, man sollte die Leute nicht gleich in die ausländerfeindliche Ecke stellen. Die brauchen ein Ventil.«

    Nicht, dass Gemeinde und Bezirk nichts täten. Das Quartiersmanagement versucht, die Konflikte zwischen den Kulturen zu schlichten. Dazu gibt es das »Quartiersbezogene Streetwork Schillerpromenade« und das Projekt »Task Force Okerstraße«, das Jugendliche von der Straße zum Trainieren in den Boxring holen soll. Das »Interkulturelle Elternzentrum mit seinem Modul der Stadtteilmütter« soll Kontakte zu Migrantenfamilien schaffen, das »Lokale Integrationsprojekt Schillerpromenade« zwischen den Religionen vermitteln. An der Karl-Weise-Schule wird der »Aufbau einer Elternschule« versucht, an der Kurt-Löwenstein-Schule läuft ein Elterncafé. Für Kinder bis 15 gibt es das Kinder- und Elternzentrum »Am Tower« mit einem hellen Neubau und einem grandiosen »Bau-Dschungel« zum Hüttenzimmern und
Handwerken. Für Jugendliche steht gleich daneben das frisch eröffnete Zentrum »Yo!22«.

    Die Liste der Probleme und der Problemlöser ist so lang, dass man sich irgendwie auf ein Notstandsgebiet gefasst macht, auf bröckelnde Fassaden und Graffiti-Tags, auf Abrisshäuser und Baulücken. Tatsächlich sind aber viele der biederen Nachkriegs-Wohnblocks, die gleich hinter dem Flugfeld von Tempelhof beginnen, zumindest frisch getüncht. Es sieht nicht schlimmer aus als anderswo in der Hauptstadt. Neben arabischen Bäckereien und afrikanischen Haarpflegeshops überwintern hier seit Jahrzehnten kuriose Lädchen der aussterbenden Art wie das »Tapeten-Studio« oder »Die Polsterei«. Die Laubenpieper, das Schützenhaus der »Berliner Schützengesellschaft 1882«, das Keglerheim - vieles sieht eher nach Spießbürgertum aus als nach der »Bronx von Berlin«.

    Sahin ist hier aufgewachsen. Und erstmal sagt der 22-Jährige auch ganz nonchalant: »Es ist eigentlich relativ ruhig hier.« Nur nachts sei es in manchen Ecken schon sehr dunkel. Da säßen die Jugendlichen zusammen und rauchten. »Ansonsten wüsste ich nicht, was hier großartig kriminell sein sollte«, meint Sahin. Dann überlegt er sich’s aber anders.

    »Ok, es gibt schon Leute, aber die sieht man halt nicht großartig«, meint der junge Mann mit der schwarzen Wollmütze und dem charmant-schiefen Lächeln. »Der Ruf von Neukölln ist halt sehr groß, ich kenne auch selber Leute, die damit zu tun haben: Drogenverkauf.« Tatsächlich weiß Sahin hervorragend Bescheid, und zwar, wie er sagt, weil er einmal ein paar Monate »streetwork« gemacht hat. Direkt nach dem erweiterten Hauptschulabschluss, als er wegen ein paar blöder Zufälle doch keinen Ausbildungsplatz bekam und nichts weiter zu tun hatte, sprach ihn der Sozialarbeiter aus dem Jugendzentrum an. Der suchte einen Mittler zu den Jugendlichen, die im Viertel Unruhe stifteten. Damals habe er die Geschäfte dieser Jungs genau recherchiert, erzählt Sahin und klingt fast anerkennend: »Das ist schon krass

Weitere Kostenlose Bücher