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Heimkehr

Heimkehr

Titel: Heimkehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Bach
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Gefühl der Verlassenheit«, wandte ich ein.
    »Verlassenheit«, erwiderte er verächtlich. »Stell dir doch mal vor, du hast jemanden lieb. Und dann stell dir vor, derjenige packt dich gegen deinen Willen, sperrt dich in einen Holzkäfig ohne Fenster und hängt ein dickes Schloß an die Tür. Und dann sitzt du fünfzig Jahre lang fest: ohne Wasser, ohne Brot, ohne einen menschlichen Laut zu hören. Und dann kommt derjenige zurück und entschuldigt sich ein bißchen. Ich hasse dich! Stell dir einen Rollentausch zwischen uns vor: Alles, was du von mir haben könntest, alles, was du brauchst, alles woran du wirklich hängst — ich geb’s dir einfach nicht. Irgendwann gibst du dann auf, und ich werde sagen: Oh, entschuldige bitte! Du BIST GANZ SCHÖN ERBÄRMLICH !«
    Die einzige Waffe, die ich noch hatte, war die Vernunft. »Diese Minute, Dickie, ist die erste von einer Million Minuten, die wir zusammen verbringen können, wenn du möchtest. Ich weiß nicht, wie viele Minuten wir beide zusammen haben. Du kannst mich verbrennen, du kannst mich hier einsperren und selbst den Rest unseres Lebens draußen verbringen, und wenn das meine Grausamkeit dir gegenüber ausgleicht, dann machen wir das auch. Aber ich könnte dir auch erzählen, wie meiner Meinung nach die Welt funktioniert. Du willst jetzt alles auf einmal wissen, was man normalerweise in fünfzig Jahren lernt? Wie wär’s denn mit mir als Lehrer: Ein halbes Jahrhundert voller Versuche, die meisten davon Irrtümer, aber manchmal bin ich auch über die Wahrheit gestolpert. Sperr mich ein, wenn du willst, oder verwirkliche mit meiner Hilfe deine alten Träume. Du hast die Wahl.«
    »Ich hasse dich«, sagte er nur.
    »Du hast jedes Recht, mich zu hassen«, erwiderte ich ruhig. »Kann ich dich aber irgendwie besänftigen? Hast du mal von irgend etwas geträumt, was ich dir zeigen kann? Wenn ich es selber je getan habe, wenn ich es ausgelebt habe, wenn ich es weiß, dann gehört es auch dir.«
    Er starrte mich im Halbdämmer eine Weile an, dann schob er seinen Flammenwerfer beiseite, und seine dunklen Augen füllten sich mit Tränen.
    »Richard«, sagte er dann zu mir. »Wie ist das zum Beispiel mit dem Fliegen?«

9
     
    Leslie hörte sich die Geschichte an, bis der Morgen dämmerte. Und als ich damit zu Ende war, saß sie aufrecht im Bett und blickte gedankenverloren durch die Fenster auf ihren Blumengarten.
    »Du hast eine Menge hinter dir gelassen, Richard«, tagte sie nach einer Weile » Blickst du nicht manchmal zurück?«
    »Das tun doch die wenigsten von uns. Die Kindheit ist ein Schatz, den man nicht sorgfältig genug aufbewahrt. Man versucht eben, sie so gut wie möglich zu überstehen und soviel wie möglich dabei zu lernen. Man zieht die Schultern hoch und hält den Atem an, und dann rollt man vorsichtig den steilen Hügel der Abhängigkeit hinunter, bis man richtig Tempo hat und die Hebel versteht und zum eigenen Leben startet.«
    »Du warst neun Jahre alt, als dein Bruder starb?« fragte Leslie mich nach einer Weile.
    »Ungefähr.« Ich dachte einen Moment nach. »Aber was hat das damit zu tun?«
    »Dickie ist neun Jahre alt.«
    Ich nickte ihr wortlos zu.
    Sie blickte mich nachdenklich an und sagte dann: »Es war eine schwere Zeit für dich, nicht wahr?«
    »Es ging so. Bobbys Tod hat mich nicht wirklich berührt. Ist das nicht seltsam? Ich müßte wirklich lügen, wenn ich sagte, daß sein Tod mich tief getroffen hätte. Es war einfach nicht so, Wookie. Er wurde ins Krankenhaus gebracht und starb, und wir sind danach wieder unserem Alltag nachgegangen. Niemand hat geweint, das habe ich mitbekommen. Es gab keinen Grund zu weinen, weil niemand ihm helfen konnte.«
    Sie sah mich nachdenklich an. »Die meisten Menschen wären deshalb aber sehr verzweifelt gewesen.«
    »Warum bloß? Grämen wir uns vielleicht, wenn ein Mensch unser Blickfeld verläßt? Er lebt dann genauso weiter wie wir. Nur weil wir ihn nicht mehr sehen, wird von uns erwartet, daß wir traurig sind? Das macht nicht viel Sinn. Wenn wir unsterblich wären…«
    Sie unterbrach meinen Gedankengang. »Hast du denn mit neun Jahren geglaubt, du wärst unsterblich? Dachtest du allen Ernstes, Bobby wäre nur mal kurz aus deinem Blickfeld verschwunden, als er starb?«
    »Ich kann mich nicht mehr erinnern. Aber es ist eine gute Idee. Ich wäre nicht überrascht, wenn es wirklich so gewesen wäre.«
    Sie lächelte ein wenig. »Ich schon. Ich nehme an, du hattest eine Menge von diesen Ideen, nachdem

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