Heimkehr
wenn wir nicht zur Tagesordnung übergehen?« wollte er von mir wissen. »Was ist dann die Antwort?«
»Mach das Leben nicht am Alter fest. Sag nicht, ›Ich bin sieben Jahre alt‹ oder ›Ich bin neunzig‹. Denn sobald du dir selber sagen kannst ›Ich bin alterslos‹, gibt es keine Widersprüche mehr, und das unheimliche Gefühl ist vorbei. Wirklich. Versuch es mal.«
Er schloß die Augen. »Ich bin ohne Alter«, flüsterte er, und wenig später lächelte er mich an. »Interessant.«
»Wirklich?« fragte ich neugierig.
»Es funktioniert«, sagte er stolz.
»Wenn unser Körper genau das abbildet, was wir über ihn denken«, erklärte ich ihm, »und wenn wir glauben, daß sein Zustand nur etwas mit unserer Vorstellungskraft und nichts mit dem Faktor Zeit zu tun hat — dann brauchen wir uns nicht mehr mit dieser Frage aufzuhalten, ob wir zu jung sind oder ängstlich oder zu alt.«
»Wer behauptet denn, daß der Körper ein genaues Abbild unserer Gedanken ist? Woher kommt eigentlich eine solche Idee?«
Ich schlug mit der Hand gegen meine Stirn. »Das ist Philosophie! Ich habe den Gedanken nur ein wenig plastisch gemacht, damit ihn auch jemand versteht, der erst neun Jahre alt ist.«
Es blickte mich an, mit dem Hauch eines Lächelns. »Wer ist denn neun Jahre alt?«
17
»Dickie, ich muß dir eine Geschichte erzählen.«
»Ich mag Geschichten«, sagte er. »Die Geschichte spielt in meiner Erinnerung, nicht in deiner. Du erinnerst dich an meine Vergangenheit, und ich erinnere mich an deine Zukunft. So oder so. Aber anstatt dir die Geschichte nur zu berichten, will ich sie dir darstellen. Einverstanden?«
»Selbstverständlich«, erwiderte er, aber es klang sehr zögerlich. Und dann die Frage, mehr neugierig als ängstlich: »Noch mehr Philosophie?«
»Mehr eine Erzählung. Es ist eine wahre Geschichte – was noch auf dich zukommen kann. Bleib in meinem Bewußtsein, und paß auf, was geschieht. Und dann sag mir, ob es Philosophie ist oder nicht.«
»Also los«, sagte er. Langsam wurde Dickie ein Freund, ein Kumpel für Abenteuer.
Ich schloß die Augen und erinnerte mich.
Da war eine großer, schwerer stählerner Balken, der an einem einzigen langen silbernen Kabel von irgendwo herunterhing, hoch über mir in meinem inneren, leeren Raum. Jahre hatte ich auf der Mitte dieses Stahlbalkens gelebt, gelernt und gespielt, und er war immer im Zentrum geblieben und nie seitlich abgekippt. Oder hatte ich es nie bemerkt?
Aber in der Pubertät stellt man sich und andere auf die Probe.
»Ich weiß, was wir tun können«, sagte Mike. Es war Sommer. Wir waren über Mittag bei ihm zu Hause. Sein Vater war bei der Arbeit, die Mutter einkaufen gegangen. Mike, Jack und ich langweilten uns irgendwie.
»Und was können wir tun?« fragte ich.
»Laßt uns was trinken«, sagte Mike grinsend.
Ich wurde sofort nervös. Bestimmt meinte er damit nicht Limonade. »Was denn trinken?«
»Wir trinken BIER .« Mike grinste immer noch.
»Gute Idee«, sagte Jack und rieb sich die Hände. »Hast du überhaupt BIER im Haus?«
»Jede Menge. Wir müssen es nur trinken.«
Ich wurde da in etwas hineingezogen, was ich eigentlich nicht wollte. Mit einem Schlag war ich weit weg von meinem Zentrum, an einem Ort, an dem ich noch nie gewesen war, und der Waagebalken, der die Balance in meinem Leben gewährleistete, kippte schwerfällig nach unten.
»Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das schlau ist«, wandte ich zögerlich ein. »Dein Vater wird bestimmt dahinterkommen. Wenn er heute abend nach Hause kommt und das Bier ist alle…«
»Keine Sorge«, beruhigte mich Mike. »Sie geben heute abend eine Party und haben Unmengen von Bier eingekauft. Er merkt es überhaupt nicht, wenn etwas fehlt.«
Mike verschwand in der Küche und kam mit drei Flaschen wieder, die er mit einer Hand an ihrem schlanken Hals hielt. In der anderen Hand trug er drei Gläser, und den Flaschenöffner hatte er zwischen den Zähnen. Er stellte alles auf den Couchtisch.
Das ist völlig verrückt, dachte ich. Ich bin überhaupt noch nicht alt genug, um Alkohol zu trinken.
»Wird dein Vater dich töten, wenn er es trotzdem herausbekommt«, fragte ich mit letzter Hoffnung. »Oder wird er dich nur zum Krüppel schlagen?«
»Er wird es nicht herausfinden«, beruhigte mich mein
Freund Mike. »Stell dich nicht so an. Wir müssen da früher oder später sowieso durch. Also dann doch lieber früher. Was sagst du dazu, Jack?«
Jack nickte unsicher. »Klar doch.«
»
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