Heimkehr
wir uns kannten, Richie. Es ist schon über zwanzig Jahre alt. Würde ein weißes Kleid mir heute abend nicht viel besser stehen?«
»Wahrscheinlich besser«, erzählte ich ihrem Spiegelbild. »Und vor allem sicherer. Niemand in dieser Stadt hat in seinem Leben bisher ein so aufregendes Kleid gesehen.« Zwanzig Jahre war es her, daß sie es gekauft hatte, und ich konnte den Blick nicht von ihr wenden. Sie bezaubert mich noch immer, dachte ich. Auch wenn sie im Alltag ziemlich normal angezogen war, lenkte sie die Blicke auf sich. Aber bei diesem Kleid würden die Männer der Stadt mit Sicherheit wahnsinnig werden.
Ich erinnerte mich an einen Gedanken, den ich aufgeschrieben hatte, bevor wir uns kannten. Ich habe ihn Jahre später in meinen Aufzeichnungen wiedergefunden: »Liebende wachsen oft in das Ideal des anderen hinein, und sie werden mit der Zeit attraktiver.« Dieser Ausspruch war Wirklichkeit geworden: Hier stand Leslie und stimmte ihr Halsband auf das Kleid ab. Die Frau im Spiegel war tatsächlich meine Frau!
Ich starrte sie an und überlegte. Sah sie so toll aus, weil eine subjektive Glocke über Verliebten hängt… egal, wie sie auf die anderen wirken, die Partner finden sich gegenseitig immer schön? Oder geschieht es absichtlich, weil es für jeden von uns beiden wichtig ist, immer gut für den anderen auszusehen?
Wir rauchen nicht und trinken nicht. Keine Drogen, keine Seitensprünge. Kein Fleisch, kein Kaffee, kein Zucker, kein Fett, keine Schokolade, keine Überstunden, kein Streß. Eine gemächliche Gangart, wenig Essen, regelmäßiges Training, viel Arbeit im Garten, häufiges Gleitschirmfliegen, Schwimmen und Yoga und viel frische Luft, frischen Obstsaft, häufig Musik und Lernen und Erzählen und Schlafen. Jeder kämpft um die Zeit für sich selbst, gegen eine Lawine von täglichen Verführungen. Und wir haben nach mehr oder minder vielen Rückfällen tatsächlich gewonnen.
Schokolade ist noch immer mein schlimmster Feind, endlose Arbeitstage der ihre.
»Wenn man soviel aufgibt, verdient man auch eine Belohnung«, sagte ich plötzlich zu ihr.
»Wie bitte?« Es war jetzt höchste Zeit zu gehen. Eine blonde Haarsträhne fiel ihr am Hals auf die linke Seite, und sie beförderte sie geduldig wieder nach rechts. Es war zu spät, um das Kleid zu wechseln. Den Medizinern stand also der Kreislaufzusammenbruch noch bevor. Wie konnte man nur solche Kleider entwerfen, in denen die Formen einer Frau so atemberaubend zur Geltung kamen?
»Mir bleibt einfach die Luft weg«, gestand ich ihr. »Du siehst heute sehr schön aus.«
Sie drehte sich vom Spiegel weg und lächelte mich an. »Du meinst das wirklich so, wie du es sagst.« Sie breitete die Arme aus. »Oh, Richie, vielen Dank. Ich bin manchmal so sehr in meine eigenen Gedanken versunken. Ich möchte doch, daß du stolz auf mich bist, wenn wir zusammen ausgehen.«
Ich umarmte sie. Dann machte ich eine Schleife ihres Kleides zu. Warum ist das äußere Erscheinungsbild so wichtig? Es ist nun einmal so, dachte ich, aber eigentlich ist es unwürdig, wenn der Partner immer schön zu sein hat. Ich verlange das auch, weiß aber selber nicht genau, warum. Liegt darin nicht schon eine ganze Menge Verlogenheit?
Ich habe das für mich akzeptiert. Denn wenn meine Frau und ich nicht für den jeweils anderen schön gewesen wären, hätte dann die Beziehung durch alle Stürme hindurch so lange Zeit gehalten? »Ich kann sie wirklich nicht begreifen«, hatte ich mehr als einmal geflucht. »Hartnäckige, verdammte Perfektionistin. Wenn du nicht so schön wärst, ich schwöre es, hätte ich dich schon längst verlassen.«
Andererseits gab es in meiner Vergangenheit viele schöne Frauen, die ich ohne Zögern verlassen habe, wenn wir uns gegenseitig überdrüssig geworden waren. Es gibt schöne Frauen, deren Faszination im Laufe der Zeit nachläßt, und andere wiederum, deren Seele im ersten Moment als das Schöne an ihnen hervorsticht, werden im Laufe der Beziehung und der Jahre rein äußerlich immer schöner.
War es so mit Leslie und mir? Sie drehte sich jetzt vom Spiegel weg, schlang sich eine schwarze Seidenstola um den Hals, nahm ihre Handtasche und sagte dann: »Ich bin fertig.«
»Dann laß uns gehen«, sagte ich zufrieden.
Sie blickte mich einen Moment lang nachdenklich an und fragte dann plötzlich: »Liebst du mich?«
»Ja«, erwiderte ich nur.
»Und warum?«
»Weil du liebenswert bist, warmherzig, witzig, tiefgründig, freundlich, wißbegierig,
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