Heimkehr
der hölzernen Sitzbank, bis ihre Stützen im Erdboden abbrachen. Er gab mir das Brett, als ob er Moses eine verwitterte Tafel übergeben würde.
Es war keine Sitzbank, sondern eine Grabtafel. In das Holz waren weder Datum noch Inschrift geschnitzt. Nur vier Worte waren zu lesen:
Bobby Bach
Mein Bruder
Was ein halbes Jahrhundert dem Vergessen anheimgefallen war, kehrte wieder zurück.
23
»Wieso bist du so klug?« Mein Bruder blickte von seinem Buch auf, erwog den Altersunterschied von eineinhalb Jahren zwischen uns und sah mich prüfend an. »Was redest du da, Dickie? Ich bin gar nicht so klug.«
Ich dachte darüber nach, und er las weiter.
»Alle sagen, du seist klug, Bobby.«
Jeder andere Bruder wäre wütend geworden und hätte dem Siebenjährigen gesagt, er sollte sich verziehen. Doch aus irgendeinem Grund fühlte sich mein Bruder nicht gestört.
»Okay, sie haben recht«, sagte er. »Ich muß klug sein, denn ich muß vorausgehen und dir den Weg weisen.«
Wenn er jemanden aufzog, ließ er sich nichts anmerken.
»Hat Roy dir auch den Weg gewiesen?«
Er ließ sein Buch kurz sinken. »Nein. Roy ist fast erwachsen, und Roy ist anders. Ich kann keine Sachen konstruieren oder sie zusammenbauen. Ich kann nicht so gut zeichnen wie Roy.«
»Ich auch nicht.«
»Aber wir können zusammen lesen, nicht wahr?« Er rückte auf dem großen Sessel zur Seite. »Möchtest du nicht lesen üben?«
Ich kletterte auf den Sessel und nahm neben ihm Platz. »Bist du deswegen so klug, weil du so viel liest?«
»Nein, ich lese so viel, damit ich mehr weiß als du.
Wenn ich dir den Weg weisen soll, muß ich doch auch ein bißchen mehr wissen.« Er klappte das Buch auf seinem Schoß auf. »Ich hoffe bloß, du kannst dieses Buch noch nicht lesen! Du bist doch noch nicht so klug.«
Ich betrachtete die Seiten und lächelte. »O doch, ich bin…«
Er zeigte auf die Großbuchstaben. »Was heißt das?«
»Das ist leicht«, erwiderte ich. » KAPITEL DREIZEHN . JENSEITS DES SONNENSYSTEMS !«
»Gut! Dann lies mir den ersten Abschnitt vor.« Ein Kind konnte bei uns zu Hause viel Lob einheimsen, aber am ehesten wurde man gelobt, wenn man gut las, »mit Ausdruck«, wie Mom zu sagen pflegte. Man war dann ein vorbildlicher Sohn.
An jenem Tag las ich also meinem Bruder vor und bemühte mich, den Eindruck zu erwecken, als ob ich ihm das, was da über die Sterne stand, erzählte. Was sich mir aber tief einprägte, waren diese Worte, die ich für wahr hielt: »Ich muß dir den Weg weisen.«
*
Nach der Schule eilte ich nach Hause, flitzte durch das Gartentor und öffnete die Hintertür zur Küche. Mit ein bißchen Glück würde ich drei oder vier Scheiben Roggenbrot stibitzen. Sollte Mom mich dabei erwischen, konnte ich das Abendessen abschreiben.
Menschenskind… Dad ist aber zeitig von der Arbeit gekommen, und jetzt sitzt er mit Mom und Bobby in der Küche. Sie sprachen ruhig und ernst miteinander, als ob mein Bruder irgendein Gast und nicht ihr Sohn wäre. Das hatte es noch nie gegeben. Mein Vater, zeitig zu Hause?
»Hi, Daddy«, sagte ich, ohne mir anmerken zu lassen, daß ich erschrocken war. »Werden wir wieder umziehen? Geht es um etwas Wichtiges? Wird dieses Gespräch lange dauern?«
»Wir reden mit Bobby«, sagte mein Vater. »Und wir möchten allein sein. Verstehst du?«
Ich starrte ihn an und streifte Mom dabei mit einem Blick. Irgend etwas stimmte nicht.
»Okay«, sagte ich. »Ich gehe zu Mike. Bis später!«
Ich verschwand durch die Schwingtür, durch die man aus der Küche ins Wohnzimmer gelangte, wartete, bis sie sich hinter mir geschlossen hatte, und verließ dann das Haus durch die vordere Tür. Was zum Teufel ist los? Sie haben noch nie ein Gespräch geführt, bei dem ich nicht wenigstens zuhören durfte. Ich bin doch ein Teil dieser Familie. Vielleicht auch nicht! Besprechen sie, wie sie mich loswerden können? Warum?
Gleich neben Mikes Haus wuchs der beste Kletterbaum, den ich kannte; er hatte Äste, die den Sprossen einer spiralförmigen Leiter glichen und bis hoch in die Spitze wuchsen. Sie waren so zahlreich, daß man nicht herunterfallen konnte. Sobald man die ersten großen Äste erreicht hatte, die in sechs Fuß Höhe wuchsen, war der Rest ein Kinderspiel. Worüber sprachen sie bloß? Warum wollten sie nicht, daß ich ihnen zuhörte?
Ein Sprung mit Anlauf. Die Tennisschuhe fanden an der Rinde Halt, rutschten und fanden erneut Halt, noch ein Schwung, und der Ast war geschafft. Ich verschwand
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